Aus dem Buch "Lebendige Sprachinseln"

REMMALJU / RIMELLA -

Walser Gemeinschaft in der Provinz Vercelli

GEOGRAFISCHE BESCHREIBUNG (s. Fußnote 1)

Rimella liegt mit seinen zahlreichen kleinen Siedlungen in einem unwirtlichen Gebiet. Steigt man langsam und gemächlich vom Flussbett zu den Berggipfeln hinauf, erreicht man eine Hochebene, die einen herrlichen Ausblick auf den Monte Rosa und die Schweizer Berge, bis hin zur ausgedehnten Ebene der Lombardei bietet.
Die Siedler, die hier durch Jahrhunderte die ausgedehnten Weiden nutzten, die Almen bewirtschafteten und ihre soliden Häuser bauten, die sich heute noch harmonisch in die Landschaft einfügen, versuchten die ungeheueren Schwierigkeiten auf die sie hier stießen, mit Mut, Ausdauer, Einsatz und großer Erfahrung zu überwinden.
Einst erreichte man diese karge Gegend nur auf schmalen, gefährlichen Pfaden, die Rimella mit Varallo verbanden. Im 19.Jh. wurde in mehreren Abschnitten eine Strasse gebaut, die aber nicht weniger gefährlich war. Sie schlängelte sich schmal und holprig den Berg hinauf, dem Fluss Mastallone folgend. Auf engen Windungen, zwischen steil abfallenden Felswänden, abstrakt geformt durch Regen, Eis und Schnee, verläuft die schmale Straße knapp vor Gulotto durch den engen Tunnel im Schatten des drohenden Kawal. Nach Madonna del Rumore öffnet sich die Landschaft und wir erreichen kleine Siedlungen wie Grondo, wo in den sechziger Jahren die Strasse endete. Bis hierher kam der Autobus, der die Einwohner aus den verschiedenen Siedlungen nach Varallo und wieder zurück brachte. Diese Siedlungen konnte man damals nur zu Fuß erreichen oder auf der schtigu, einem kühnen technischen Straßenbauwerk, das heute noch ein Wahrzeichen für die Genialität und die langjährige praktische Erfahrung der Rimeller Walser ist. Villa Inferiore und Chiesa erreicht man aber auch auf einem bequemen, malerischen Weg, der durch einen herrlichen Buchenwald führt, vorbei an der Kapelle des Hl. Markus. Von hier aus zweigten die Wege zu allen anderen Siedlungen ab, sowie Pfade über den Colle della Dorchetta in das Val d’Anzasca, oder über die Colma und das Tronatal zum Lago d’Orta, in das Ossolatal und zum Lago Maggiore. Geographisch gesehen liegt das Gebiet von Rimella auf ca. 1000 m ü.M. zwischen dem Anzasca – und dem Ossolatal im Norden, dem Monte Rosa im Westen, dem Sesia-Tal im Süd-Osten und den Seen Lago d’Orta und Lago Maggiore im Osten. Die Flüsse Landwasser und Enderwasser, die bei Madonna del Rumore zusammenfließen um sich knapp nachher in den Mastallone, einem Zufluss des Sesia zu stürzen, durchqueren das Gebiet von Rimella. Die Hochebene ist teils von steil abfallenden Bergen umschlossen, mit typischen Namen wie Sunna-höüru (Sonnenhorn, 2.161m), Altemberg (2.390m), Xasˇtal (2.238m), Kawal (1.887m). Längs der Bergkämme stoßen wir auf Pässe zu den angrenzenden Tälern wie den Agaatsupass (1.184m) und den Respass (1.419m), die eine schnelle Verbindung zum Fobello-Tal ermöglichten. Das Anzascatal erreichte man durch den Bachfurku (1.818m – auf der Landkarte von Bauen mit Baxfurku gekennzeichnet), in italienischer Sprache Dorchetta genannt; der Strönerfurku (oder Bocchetta di Campello, 1.924m) ermöglichte die Verbindung mit Campello Monti, das Ende des 13. Jh. von den Rimellern gegründet wurde und bis zum 19. Jh. von Rimella abhängig war. Der Kamm Altemberg-Capezzone, Wasserscheide zwischen den Tälern des Landwasser und des Strona, ist auch Grenze zwischen der Provinz Vercelli, der Rimella angehört und der Provinz Verbania, der das Stronatal zugehört, mit Ausnahme der Alpe Capezzone und dem gleichnamigen Alpensee, die noch zur Gemeinde Rimella gehören. Hier treffen wir auf weitere Almen: die Capezzone-Alm (Kupsˇu, 845 m),die Biserosso-Alm (Bischerush, 1.718 m); die Pianello Alm (Bedemje, 1.801 m), und andere, kleinere im östlichen Gebiet. Im Westen liegt die Scarpiola-Alm (1.400m), Pianamonda (1.797 m) und die Vegliana-Alm, einst blühende Almwirtschaften, die heute mit ihren verfallenen Sennerhütten einen verlassenen Eindruck machen. Nur einige der genannten Almen sind noch bewirtschaftet; es werden Schafe, Kühe und Ziegen gehalten.

Remmalju: die Fraktionen Villa Inf. (Nider Dörf), Chiesa (Chiljchu), Prati (Matte) und Sella (Schattal)

Remmalju: die Fraktionen Villa Inf. (Nider Dörf), Chiesa (Chiljchu), Prati (Matte) und Sella (Schattal)


M. Bauen beschreibt dieses Gebiet etwa so: »Rimella und seine Umgebung haben einen wilden Aspekt, enge, felsige Schluchten und Wildbäche wechseln sich mit robusten Erlenwäldchen, mit dichten Buchen-, Tannen und Eschenwäldern ab. Auf fast allen steil abfallenden Hochebenen stoßen wir auf kleine Siedlungen, deren Häuser sich um eine größere Kapelle scharen, denn wäre es eine richtige Kirche, so fände sie hier keinen Platz2«. In einer Urkunde aus dem Jahre 1828 steht, dass das Gefälle zwischen 40° und 50° beträgt. Im gleichen Dokument wird bemerkt: »obwohl es keine besonderen Ausblicke gibt, herrscht hier keine Monotonie. Die Abstufung der Berge, die Form der Kämme, das ansteigende und wieder abfallende Territorium, der Kontrast des Grünen mit der Kargheit der Felsen im Sommer und die weiße Schneelandschaft gegen die schwarzen Felsen im Winter, vermitteln dem Beobachter immer neue Eindrücke und Emotionen3
Bauen teilt diese Streusiedlungen auf seiner Landkarte in vier Zonen: Centro, S. Gottar- do, (Ä Rund), S. Anna (Erörtu), das Gebiet von Capezzone. In der ersten Zone finden wir Grondo (Grund), Villa Inferiore (Niderdörf), Chiesa (Tser Xilxu), Prati (En Matte), Villa Superiore (Dörf), Sella (Sˇattal); in der zweiten Zone S. Gottardo (Ä Rund) und kleinere Siedlungen wie la Selletta (Sˇattelte), Wang, Wärch, Wärch di sotto, Bedemje, Emmra, die sich alle im Tal des Enderwasser befinden; in der dritten Zone S. Anna (Erörtu), im nördlichen Teil von Landwasser, Pianello (En D Äku), Roncaccio Inferiore (In du Niidru), Roncaccio Superiore (In dun Oobru), Riva (Riiwu), S. Antonio (Summertsianu), Tsum Trog, Tsunengo; zur vierten Zone gehören die Almen.
Auf diesem so beschriebenen unwirtlichen Gebiet (Lawinen- und Überschwemmungsgefahr), lebt seit 700 Jahren eine Volksgruppe die mit Intelligenz, Unternehmungsgeist, Mut und einem starken religiösen Vertrauen4, eine Kultur und eine Zivilisation aufgebaut hat, die man als einzigartig in der Geschichte des Walser Volkes im Alpenraum bezeichnen kann. Von den im Piemont angesiedelten Walsern ist es besonders dieser Volksgruppe gelungen, »ihre Traditionen und Gepflogenheiten am längsten aufrecht zu erhalten« (Sibilla). Heute ist Rimella eine Gemeinde der Provinz Vercelli, mit 140 Ein- wohnern (Volkszählung 2001), ständig wohnt hier nur etwa die Hälfte. Diese Zahlen sagen einiges über die Abwanderung der Menschen aus diesen und anderen Gebirgsdörfern aus.
Wenn wir uns an die Angaben von Bauen5 und die kürzlich vom Gemeindeamt veröffentlichten Daten halten, so können wir einen steigenden Rhythmus in der Entwicklung der Einwohnerzahl feststellen und zwar ab 1631. Im Jahre 1831 wurde in Rimella der höchste Bevölkerungsstand mit 1175 Einwohnern erreicht, die sich auf 15 Siedlungen aufteilten, einige davon sind heute unbewohnt6. Grossen Einfluss auf diese Entwicklung hatten die Industriegesellschaft und die hohe Auswanderungsquote. Die Auswanderer richteten bei ihrer Abfahrt und Rückkehr bei der Madonna del Rumore (Liebu Frowwa tsum Schteg)7 ein Gebet an die Heilige Jungfrau:

Er tiéje-dech grièzu ljeps pais! Mess-wer ewéég gà.
Sei gegrüßt, meine geliebte Heimat! An diesem Tage scheiden wir

Malme ljebuvrowa, tiog hiètu endsch Lit und end_chàndre ussu wanj tiéwer erwennu.
Gnadenvolle Jungfrau, schütze uns und unsere Lieben bis zu unserer Rückkehr.

Er tiéje erwennu, heljhe Ljèbuwrowà en ents Lànd
Wir kommen wieder, oh heilige Jungfrau in das Land,

ents Hèrz isch volts di Ljièbe Heljf.
und das Herz ist voll von deiner Hilfe.

Der Originaltext war in Italienisch abgefasst und wurde für diese Veröffentlichung übersetzt.

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1 Wir weisen darauf hin, dass der folgende Text eine überarbeitete, erweiterte und korrigierte Form der Auflage "Per una Storia di Rimella" ist, die von der Autorin im Jahre 2000 im Auftrag der Gemeinde Rimella und des CSWR, bei welchem Fotokopien aufliegen, ausgearbeitet worden ist.
2 M. Bauen, Sprachgemischter Mundartausdruck in Rimella (Valsesia, Piemont) Bern, Stuttgart 1978 - Das Werk erschien in italienischer Übersetzung von Dr. E. Vasina) mit dem Titel: La Lingua di Rimella tra cultura alto tedesca e utakuaba, Borgosesia (CSWR, 1999). Das Zitat ist auf Seite 27 der italieischen Übersetzung nachzulesen. Die nachfolgenden Zitate beziehen sich immer auf die italienische Übersetzung.
3 A. Lovatto, Notizie statistiche concernenti la comunità di Rimella: 1828, in Remmalju, 1999, S. 8
4 F. Tonella Regis, Rimella, Remmalju 1999, S. 4; M. Remogna, Senimento della morte e riti connessi, quali presenze del quotidiano vivere dei Rimellesi, Remmalju 1997, S. 9 u. f.
5 M. Bauen, Zitiert auf S. 31
6 M. Bauen, Zitiert auf Seite 31
7 F Vercellino, Emigrazione nella comunità di rimella nel XIX secolo, in Remmalju 1991, S. 14

GESCHICHTE DER GEMEINSCHAFT

Spricht man über die Geschichte von Rimella, so kann man nicht umhin auch jene Gelehrten zu nennen, die als erste bedeutende Ereignisse aufzeichneten und erläuterten. Ich beziehe mich auf Kanonikus Michele Manio (1865–1924), Prof. Luigi Rinoldi (1867–1955) beide aus Rimella gebürtig, und auf den Schweizer Sprachwissenschaftler Prof. Marco Bauen (1925–1993).
Kanonikus Manio veröffentlichte im Jahre 1905 den kleinen Band (35 eng bedruckt Seiten) »Worte zum Anlass der feierlichen Preisverteilung am 29. September 1905 an die Schüler der Gemeindeschule von Rimella.« Diese Arbeit wird oft zitiert, denn die »Anmerkungen und Fußnoten« enthalten zahlreiche historische Notizen über die Rimeller, die »aus den Pfarramtregistern stammen und zwar aus denjenigen, die glücklicherweise dem Brand entkamen, der Ende des 17. Jahrhunderts das gesamte Archiv der Pfarre zerstörte«, weiters aus den Memoiren des Propstes Cusa […], aus Dokumenten, die sich im Landesarchiv und im historischen Diözesanarchiv von Novara befinden, sowie aus mündlichen Überlieferungen und aus der Tradition1 … Eine wichtige Notiz ist, »dass die in Rimella gesprochene Mundart ein sicherer Hinweis darauf ist, dass diese ihren Ursprung in der teutonischen Volksrasse hat […] die aus der Schweiz kam und zwar aus dem Kanton Wallis, und ihr Vordringen in das Valsesia nicht lange vor dem 13. oder 12. Jh. anzunehmen ist.2« Dem Autor Manio standen keine Urkunden vor dem 16. Jh. zur Verfügung, es war ihm daher nicht möglich, ein vollständiges Verzeichnis aller Rimeller, ihrer Religion und ihres Berufes anzufertigen, was erst ab dem 17. Jh. erfolgte.3
Eine solche Erhebung war aber notwendig, denn man suchte nach einer Verbindung zwischen den Ursprüngen im 12. Jh. und der Entwicklung dieser Siedlergemeinschaften im 13. Jh. sowie den neueren Erkenntnissen über die Rimeller ab dem napoleonischen Zeitalter bis in unsere Tage.«4

Der Name jedes Rimellers, der im Band des Kanonikus Manio genannt wird, ist mit einer präzisen Biographie versehen. Diese wirft Licht auf viele gesellschaftliche sowie soziale Aspekte aus dem Leben der Rimeller zwischen 1528 und 1900.
Prof. Luigi Rinoldi hat 1943 ein Buch über die »Geschichte von Rimella« geschrieben. Die Arbeit von Rinoldi bezieht sich – abgesehen von der Beschreibung des Art. 55 der Valseser Statuten – vor allem auf sprachliche Aspekte, mündliche Überlieferungen, persönliche Erinnerungen und Erlebnisse und ist ein beachtlicher Beitrag zur Geschichte von Rimella5. Marco Bauen hat 1978 des Buch »Sprachgemischter Mundartausdruck in Rimella« (Valsesia, Piemont) veröffentlicht. Es wurde 1999 in italienischer Sprache herausgegeben. Es ist »das erste moderne, wissenschaftliche Werk, den Walser Siedlern von Rimella gewidmet, […] das sich als kostbare Quelle für den Verfasser dieses Berichtes herausstellen sollte, vor allem aber für seine Schriften und Ausgaben im sprachlichen Bereich, ebenso wie für andere Schriftsteller auch, die sich mit der Kultur, der Geschichte und dem Volkstum von Rimella befassten.6 Professor Zinsli von der Universität Bern hatte Bauen beauftragt, ein Buch über Rimella zu schreiben; Es sollte eine Monographie über die sprachliche Situation in Rimella werden, besonders über den Satzbau Deutsch-Rimellisch7.

Remmalju: 1948, Gruppe in Tracht

Remmalju: 1948, Gruppe in Tracht


Der Historiker E.Rizzi bezeichnete das Buch als einzigartiges Werk, weil gerade Rimella, diese alteingesessene Walser Siedlung, als außergewöhnliches Sprachlabor gewählt wurde. Bauen beherrschte nicht nur die beiden in Kontrast befindlichen Sprachen perfekt, sondern hatte auch den Rimeller Dialekt erlernt. E. Rizzi bemerkt im Vorwort zur italienischen Ausgabe, dass Bauen in 10 Jahren Arbeit, noch bevor die massive Auswanderung die Gemeinschaft dezimierte, eine Fülle von Aussagen aus dem Munde der im 19. Jahrhundert geborenen Rimeller gesammelt hatte und es ihm gelungen war, wertvolle Stücke geschriebenen Dialektes aufzufinden8.
Obwohl Bauen sein Werk hauptsächlich der Sprachanalyse widmete, übermittelt er uns im letzten Teil eine Reihe von Informationen historischen Charakters, chronologisch geordnet und in nicht datierten Details aufgezeichnet, die er vor allem aus mündlichen Überlieferungen erhalten hatte. Zu diesen glaubwürdigen Angaben wird auch die Hypothese hinzugefügt, dass Rimella bereits vor dem Jahre 1300 von den Walsern bewohnt war.
Aber wer waren diese Rimeller Walser eigentlich? Von wo kamen sie? Bei vielen Schriftstellern finden wir Hinweise dafür, dass sich auf dem harten und wilden Gebiet eine kleine, aus der Schweiz kommende Volksgruppe angesiedelt hatte, die immer zahlreicher wurde; es war jenes Hirtenvolk deutscher Abstammung, das im Laufe der tiefgreifenden wirtschaftlichen-sozialen und politischen Veränderungen, die sich um das Jahr 1000 in Europa bemerkbar machten, aus dem Wallis auswandern musste, und die Alpenkämme überschritt. Dass es sich um Alemannen handelte, war für Rinaldi eindeutig. Er machte mit der Legende, es wären zerstreute Kriegergruppen der von Caio Mario besiegten Zimbern und Teutonen gewesen, endgültig Schluss. Rinaldi kam auf diese Daten vor allem aus sprachlichen Erwägungen (im Tittschu gab es keine Begriffe, die sich auf Kriegswaffen bezogen); er berief sich aber auch– wie schon Manio und andere– auf den Art. 55 der Valseser Statuten, der diesen »Schweizer Alemannen die Pflicht auferlegte, jedem neuen Feudalherrn Treue zu schwören, andernfalls »sie sofort aus diesem Tal fortzuziehen hatten«.
Schwieriger hingegen ist die Frage zu beantworten, was die Walliser zur Auswanderung bewegte, weiters der Zeitpunkt ihrer ersten Ansiedlung in dem kleinen Tal des Enderwasser und des Landwasser, und die Richtung, aus welcher sie in die neuen Territorien eindrangen. Der Anstoß zur Auswanderung waren sicher wirtschaftliche Gründe, das heißt die Nutzung und Aufwertung von hochgelegenen Randgebieten, die zu kirchlichen und weltlichen Feudalbesitzungen gehörten. Dazu zählten das Kapitel der Kanoniken von S. Giulio d’Orta, das Benediktinerkloster von S. Graciniano von Arona, der Grafen von Biandrate, zu deren Besitztümern die Hochalmen im Gebiet von Rimella gehörten, die früher bereits als Sommerweiden genutzt wurden.
Manio, Rinaldi und Bauen haben sich mit dem Zeitraum der Ansiedlung und der Wanderrichtung befasst, konnten aber nichts Konkretes in Erfahrung bringen. Später erst »durch einen glücklichen Zufall, der einige wertvolle Urkunden über die Gründung von Rimella aus dem Archiv des Kapitels von S. Giulio ans Tageslicht brachte, machte Rimella zu der am besten dokumentierten Ansiedlung der Walser«9. In Bosco Gurin wurde kürzlich ein noch älteres Dokument entdeckt. Heute sind wir in der Lage, die Gründung von Rimella mit dem Jahre 1255 zu datieren. Es handelt sich um eine der ältesten Walser Ansiedlungen im Alpenraum, die in verschiedenen Wanderwellen erfolgte.
Laut einer Urkunde vom 11. November 1256 in S. Giulio d’Orta hatten sich drei Männer im Vorjahr in diesem Gebiet angesiedelt und zwar auf der Alm Rondo. Es handelt sich um Giovanni, Sohn des verst.Terminen (einer der ältesten Zunamen der Rimeller Walser, Termignone, heute noch gebräuchlich), um Anselmo, Sohn des verst. Giovanni de Monte mit seinem Sohn Pietro und Guglielmo, Sohn des verst. Ugo de Balma, die mit anderen Siedlern im Beisein des Domkapitels eine Siedlergesellschaft zur Almnutzung gründeten. Die Gesellschaft umfasste 12 Familienanteile bei Gütergemeinschaft der Weiden, der Wälder und des Wassers. Das Kapitel gewährte den Siedlern das unkündbare Recht hier zu wohnen. Die Siedler verpflichteten sich, den Pacht, die Kosten und alle Auflagen dem Domkapitel zu entrichten und dem Dompropst Treue zu schwören. Ortsnamen und Anthroponome wie z.B. Pietro di Aimone Deveri, Guebus, Alemannus de Simplono (Sempione) weisen mit Sicherheit auf eine Herkunft dieser ersten Siedlergemeinschaften aus dem Wallis hin und dass sie über die Alpen in das Tocetal bis an die Ufer des Lago d’Orte vordrangen, und durch das Stronatal die Hochalmen […] an den Berghängen des Capezzone, Capio und Kawal),10 erreichten.
Eine weitere Wanderwelle verfolgt laut P. Zinsli in seinem Buch »Walser Volkstum in der Schweiz, in Vorarlberg, Liechtenstein und Piemont« (1970), die Linie Macugnana-Valle An- zasca-Colma der Dorchetta (Baxfurku). Die Walser Siedler waren ein friedliches Volk, sie erhielten das Recht eine Wassermühle zu bauen, was den Beginn der Tätigkeit für die Zunft der Müller bedeutete, die bis zu den dreißiger/vierziger Jahren des 20.Jahrhunderts kennzeichnend für die wirtschaftliche Entwicklung von Rimella war. Ein Dokument aus dem Jahre 1829 weist darauf hin, »dass die Jugend sich nicht dem Krieg zu widmen habe, sondern sich der Wissenschaft und den freien Künsten hingeben solle, soweit die Mittel dafür gegeben waren«. In diesem Dokument bezieht man sich auch auf die Aussagen von Fassola, der als erster über die Geschichte des Wallis schrieb. Er schrieb den Ursprung von Rimella jenen Teutonen zu, die sich aus der römischen Schlacht, angeführt von Caio Mario retten konnten; diese Annahme wird aber verworfen und man folgt der Hypothese, dass die Rimeller ursprünglich aus dem Wallis kamen, wie dies » die Mundart beweist, die gesprochen wird, und die alten Bauten, die heute noch bestehen«11.
Weitere 15 Urkunden geben uns bis Ende des vierzehnten Jahrhunderts Auskunft über die Wanderwellen, die unsere Siedler in dieses unwirtliche Hochgebirge führten. Die schwere Arbeit und die Spannungen zwischen den Biandraten und den Kanoniken von S. Giulio, Raubzüge und Viehdiebstahl im Jahr 1260 belasteten die Siedler und wirkten sich auch auf die Land- und Weidewirtschaft aus. Zehn Jahre später lässt sich eine gewisse Stabilität feststellen. Im Jahre 1270 schließt sich eine Gruppe von Walliser Siedlern zusammen und zwar 4 Einwohner von der Alm von Rimella und 9 Einwohner aus den beiden Teilen des Almgebietes Rotondo. Sie beschließen im Beisein des Domkapitels eine Siedlergesellschaft für die Almnutzung zu gründen. Der Vertrag mit einer Dauer von 15 Jahren war auf die Erben übertragbar. Rimella wird zum ersten mal als Ansiedlung innerhalb der bereits genannten Almgebiete genannt. Das Kapitel gewährte den Siedlern das unkündbare Recht mit ihren Familien in Rimella zu wohnen, Häuser und Mühlen zu bauen, Weiden und Wälder zu nutzen. Neben der Bezahlung von 9 Imperialen am Tag des Heiligen Martin hatten die Siedler dem Kapitel den »Zehnten« der Lämmer, Ziegen oder Schweine, der Getreideernte und der Früchte abzutreten und eine Abgabe von 20 Imperialen für die Verlängerung des fünfzehnjährigen, vererbbaren Pachtvertrages zu leisten. Die Siedler von Rimella übernahmen die volle Jurisdiktion des Dompropstes, waren jedoch nicht zur Zahlung des »Gastrechtes des Kanonikus« verpflichtet12.
1314 wird Rimella zum ersten Mal als »villa – Dorf« bezeichnet. Die Siedlergemeinschaft traf in der Zwischenzeit ihre Entscheidungen in regelmäßigen Versammlungen, an denen auch die Nachbarn teilnahmen. Damit begann die Walser Gemeinschaft sich als eine selbstregierende Volksgruppe abzuzeichnen und sollte dies auch bleiben, auch wenn die Herrschaft über das Land später von den Spaniern, den Savojern und von Napoleon übernommen wurde.
Einige Schriften nach 1314 berichten über die angespannte Situation zwischen Rimella und dem Domkapitel der Insel von S.Giulio sowie von der Konsulargemeinde in Rimella, die 1394 aber nur mehr verwaltungstechnische Funktionen hatte. Ende des 14. Jahrhunderts waren die wirtschaftlich-sozialen Grundzüge der Rimeller Siedlergemeinschaft sehr ausgeprägt, jedoch andere wesentliche Aspekte wie zum Beispiel Kultur und Religion wurden vernachlässigt. Der Integrationsprozess der Gemeinschaft der Walser zwischen Mittelalter und Neuzeit, ein Kapitel lokaler Geschichte, ist noch zu entdecken13.
Leider haben Brände Ende des 17.Jh. die Propstei vollkommen zerstört. Auch das Gemeindehaus mit dem gesamten Archiv und Dokumenten fiel im Dezember 1697 einem Brand zum Opfer; in den Jahren 1813 und 1960 verbrannten ganze Siedlungen; 1818 verbrannte die Tser Chilcho (die Kirche), nur das daneben stehende Gebäude blieb erhalten. Im Jahre 1853 zerstörte ein Brand alle Häuser, ausgenommen zwei Gebäude in der Siedlung Prati.
Trotz allem erschienen immer wieder Studienbeiträge in der Zeitschrift Remmalju, die beweisen, wie viele Daten und Informationen in den Diözesanarchiven, in den Staatsarchiven und in den Kirchenarchiven erhalten sind. Auch notarielle Akte geben Auskunft über Rimella, das schon seit dem 16. Jahrhundert Notariatskanzleien hatte, wie aus Akten aus den Jahren 1396 bis 1556 hervorgeht.
Wann genau die Geschichte von Rimella begann, ist noch nicht klar. Prof. Augusto Vasina bezieht sich in seinen Artikeln zu »Angaben über die Sozialgeschichte von Rimella zwischen dem 15. und dem 16. Jahrhundert«14 auf 44 notarielle Akte (Pergamente), die im Museum von Rimella unter dem Titel »Antike Dokumente von Rimella von 1396 bis 1556« aufliegen und bestätigt, dass »die Lektüre und die Abschriften dieser Dokumente […]. es ihm ermöglichten, Betrachtungen über die Entwicklung der Rimeller Gemeinschaft zwischen dem Mittelalter und der modernen Zeit anzustellen, und sie mit den verfügbaren Daten über Rimella aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert zu vergleichen«.
Weiters: »… wie im Abstand von vielen Jahrzehnten die Bevölkerung von Rimella gewachsen ist […] Zu den Familien, die noch den Namen ihrer Walser Vorfahren benutzen, sind Siedler aus anderen Gebieten dazugekommen. […]. Es handelte sich um kinderreiche Familien und Grundbesitzer, um Landwirte und Hirten aber auch um Notare. Alle waren sie irgendwie untereinander verwandt und nicht selten schlossen sie sich in Konsortien zusammen. Auf namenkundlicher Basis […] lassen sich die Familienzunamen nicht immer linear bestimmen, wie dies bei den heute noch existierenden Familien möglich ist, wie z.B. Termignone, Ferrari, Ubezzi, e Calzino […] Andere sind teilweise ausgestorben, zumindest in Rimella, wie Maffioletti, Fogli […]
Außer den Ortsnamen Rimella und Rondo (oder Rotondo), die anfangs nur Almgebiete waren, kommen nun auch andere Siedlungen hinzu, die man wie schon im 13. und 14. Jh. »Dörfer« nennt. Diesen stand mindestens ein Konsul vor. Er übte sein Amt in der villa Ecclesie (d.h. in Chiesa), im Gemeindehaus aus. Der am öftesten in den Urkunden genannte Ort, vor allem für die Beurkundung notarieller Akte, ist villá Ecclesie […], der aber auch als Zentrum des religiösen Lebens durch die Kirche S.Michele Arcangelo, den Friedhof und den Hauptplatz bedeutend war. Im Siedlungskern stehen schöne Häuser mit Bogengängen und Erkern. Hier fanden die Verhandlungen in Anwesenheit von Zeugen und Notaren statt. Im 15. Jh. waren es die Fobellinesi […], während es sich im 16. Jh. um Rimeller handelte«15.
Der Lage der Besitzungen, (…) die Gegenstand des notariellen Aktes sind, geht immer die Formel »in territorio Rimelle« (auf dem Gebiet von Rimella) voraus, also dort wo das Gemeinderecht ausgeübt wird.
Die Lokalität Scarampoglio wird am öftesten genannt( in mindestens 12 Karten). So erhält man laut Prof. A. Vasina aus all diesen notariellen Urkunden »einen Ausschnitt aus dem Leben der Rimeller Gemeinschaft, ihrer individuellen und sozialen Gewohnheiten, und wie sie ihre Besitztümer notariell eintragen ließen«. Schließlich kann Vasina mit folgender Aussage zitiert werden: »aus vielfachen Anzeichen geht hervor, dass Rimella, unter Beibehaltung einiger der ursprünglichen germanischen Eigenschaften, im 15. und 16. Jh. große Schritte im Anpassungsprozess an die Valseser Welt gemacht hat.«
Die Walser Ausdrucksweise wird bei den Rimellern immer weniger benützt ,andererseits tauchen zahlreiche Ortsnamen germanischen Ursprungs auf. Bauen16 bestätigt in seinem Buch als sichere Hinweise dafür den Bau (1518–1528), ein Zeichen der wachsenden Bedeutung der Kirche »in villa Ecclesie«. Aber es wird auch berichtet über die Bestattung der Toten von Campello, die man zu Fuß auf einem gefährlichen Pfad über den Colmapass (Strönerfurku, 2000 m) zur Pfarrei nach Rimella bringen musste. Dies war ein großes Problem, denn die im Winter verstorbenen Einwohner von Campello mussten im Schnee an der Nordseite des Strönerfurku eingefroren werden, um dann nach der Schneeschmelze in Rimella begraben werden zu können. Nach der Einweihung des neuen Friedhofes (1551) in Kampel (Campello) war dies nicht mehr notwendig. Bauen informiert, dass am 21. April desselben Jahres zum letzten Mal die »Töturaschte«, = »Obrun Balme« verwendet wurde. Aus derselben Quelle erfahren wir, dass am 11. September 1597 Campello von der Pfarre Rimella gelöst und an jene von Forno (Valstrona) angegliedert wurde. Campello wurde erst im Jahre 1814 eine von Rimella unabhängige Gemeinde.
Die bisher genannten Notizen aus dem 15. und 16. Jh. über Rimella – einige davon stammen aus kürzlichen Nachforschungen in den Diözesanarchiven von Novara und Varallo – zeichnen uns das Bild einer lebensbejahenden Gemeinschaft , die trotz der Kargheit des Bodens, der harten Arbeit und der schwierigen Lebensverhältnisse, mit Intelligenz, Ausdauer, Mut und Bereitschaft zum Verzicht, eine eigene Kultur aufbauen konnte. Von der Religiösität dieser Volksgruppe zeugen die zahlreichen Gotteshäuser, allen voran die Pfarrkirche17, Wohnhäuser wie das Haus Robbo (De Robo)18 mit einer Gravierung »1593« auf einem hölzernen Tragpfeiler und dem Namen der Besitzer und dem Familienwappen, das bisher einzig bekannte. Überraschend ist auch die große Zahl an hier gebürtigen bedeutenden Personen. Rimella hatte im 16. Jh. 24 Notare, davon waren 13 im Dorf tätig19. Aber schon M. Manio20 nennt einen aus Rimella stammenden Priester. Bis ins 18. Jahrhundert stammten immer wieder Priester, Notare aber auch Winkeladvokaten, Rechtsanwälte, Ärzte, Tierärzte, Chemiker, Apotheker, Kapitäne, Ingenieure […], Schriftsteller, Maler, Bildhauer aus Rimella und lebten und arbeiteten dort.
Die Angaben bei Manio über jede einzelne Person sind mit kurzen, autobiographischen Notizen versehen, die auch die historische Lebensart-und Weise schilderten. Vom ersten Rimeller Pfarrherrn und Probst Don Dom.Ant.Tosseri berichtet auch Bauen21 vor allem in Bezug auf die Sprache. Bauen schreibt, dass der Bischof von Novara 1771 »Don Domenico Antonio Tosseri versetzt hatte (…) und zwar von Ornavasso nach Rimella, weil dieser in deutscher Sprache predigte und verbietet von diesem Moment an den Eltern der Pfarre Ornavasso auf das strikteste, ihren Kindern den deutschen Dialekt zu lehren«. Bauen fügt noch hinzu, »dass man bis 1771 in Ornavasso ausschließlich in deutscher Sprache predigte. In jenem Jahr versetzte der Bischof den letzten Priester, der noch im Beichtstuhl und auf der Kanzel Deutsch sprach, von Ornavasso nach Rimella …« Es scheint, dass Carlo Felice, König von Sardinien (1821–1831), die deutschen Namen und den Gebrauch der deutschen Sprache verboten hatte, was die Angaben von Zinsli » dass in Rimella die deutsche Sprache schon 1829 verboten wurde«, bestätigt. Bauen schreibt weiters, dass »am 5. Juli 1788 die neue, große Pfarrkirche nach einem Plan des Erzbischofs Don Antonio Tosseri eingeweiht worden ist«. Die Rimeller entfalteten nicht nur Kunst und Kultur, sie mussten auch täglich schaffen und mühsam arbeiten, um in der unwirtlichen Gegend Verbindungswege zu bauen.22
DieMenschen ließen sich trotz der rauen Lebensumstände nicht davon abhalten, im gemeinsamen christlichen Glauben mit der gemeinsamen Sprache in einer autonomen gut organisierten Gesellschaft zu leben, die ein besonderes Augenmerk auf Schule und Bildung hatte. Diese Situation dauerte bis knapp nach dem zweiten Weltkrieg an.
Zwei weitere Rimeller Persönlichkeiten dürfen nicht vergessen werden: der Franziskaner Padre Filippo Reale, ein großer Philosoph und Theologe, ein begabter Redner und lebhafter Polemiker vor allem gegen die Jansenisten, und Giovanni Battista Filippa, Gründer des Museums von Rimella. Dieses trägt heute noch seinen Namen und zählt zu den ersten privaten Einrichtungen Valsesias.
An Padre Reale erinnert auch die Rede zu Ehren der Heiligen Gioconda aus dem Jahre 1790, als die Reliquie der heiligen Märtyrerin, Schutzpatronin des Dorfes, in die Kirche getragen wurde. Die Ansprache wurde im gleichen Jahr veröffentlicht23, auf dessen Umschlag heißt es: vorgetragen vom Vorleser Padre Filippo aus Rimella (…) am Ende der feierlichen dreitägigen Zerimonie am 27. 28. 29. Juni, auf Kosten der frommen Rimeller Leute, in Novara und Vigevano wohnhaft …«. Diese Anmerkung beruft sich auf das Thema der Bruderschaft und der Solidarität, die bei den Rimeller Auswanderern herrschte. Es ist hier nicht möglich , auf die moderne Geschichte von Rimella näher einzugehen. Diese kurze Zusammenfassung mit dem Thema »Confraternité«, auch mit Bezug auf Bildung und Schule muss genügen. Vor allem wird auf die Untersuchungsergebnisse von Rina Dellarole in der Zeitschrift Remmalju24 hingewiesen, auch wenn die Arbeit von Prof. P. Sibilla25 aus volkskundlicher Sicht wohl zu einer der bedeutendsten zählt.
Neue Archivforschungen unterstreichen vor allem den kulturellen Reichtum dieser noch stark bevölkerten Ortschaft. Die chronische Auswanderung26 und die Verbindungsschwierigkeiten im Winter brachten große Probleme27. Eine von Remogna28 befragte Person sagte: »es waren Zeiten, wo es große Armut gab und die Leute sich über ein Stück Brot freuten«.
Vor allem im 18.Jh. wurde in diesem stark bevölkerten Rimella viel studiert und zahlreiche, gut organisierte Vereinigungen waren ebenso auf geistigem Gebiet wie in der Fürsorge tätig. Dies bezeugen die Nachforschungen von R. Dellarole Cesa sowie jene von S. Bruno über die Pastoralvisiten der Bischöfe Mons. Taverna, Mons. Balbis Bertone und Mons. Morozzo della Rocca in Rimella in den Jahren 1617, 1760 und 182129. Aus den einschlägigen Urkunden geht hervor, dass Rimella »eine verstreute Pfarre« mit »einem »guten Pfarrer« und einem »guten Volk« war, von Menschen des »teutonischen« Walser Stammes bevölkert und dass ein Teil der Männer imstande war, italienisch zu verstehen. Dies verweist wieder auf das Phänomen der Auswanderung, die in den Monaten von März bis Oktober besonders intensiv war. Die Auswanderung brachte einerseits die Männer mit dem romanischen Umfeld in Kontakt und lastete andererseits den Frauen, die nur »tittschu« ,also die Sprache der ersten Walser Siedler sprachen, den Haushalt, die Kindererziehung und die Arbeiten auf Wiesen und Feldern auf .
Die vielen interessanten Informationen aus den Pastoralvisiten erzählen auch etwas über den Jahrhunderte alten Brauch in den Dörfern, den Jugendlichen durch den Kaplan oder den Lehrer, der oft auch der Pfarrer war, Literatur- und Religionsunterricht zu geben, auch wenn diese nicht unbedingt zum Priestertum30 bestimmt waren. Die Rimeller waren sehr darauf bedacht, dass ihre Jugendlichen, die später fast alle auswandern mussten, ein Minimum an Bildung hatten; sie mussten schreiben, lesen und rechnen lernen, um ihr Handwerk oder eine andere qualifizierte Tätigkeit ordentlich ausüben zu können und mussten in der Lage sein, mit ihrer in der Heimat verbliebenen Familie korrespondieren zu können.
Seit Beginn des 18. Jh. bestimmte man einen Teil der Gaben und Schenkungen, die von den Auswanderern kamen, »zum Unterhalt des Kaplans«. Er verpflichtete sich dafür die Beichte abzunehmen, die Feiertagsmesse »im Morgengrauen« zu lesen und »sechs Kin- der aus der genannten Gemeinschaft sechs Monate eines jeden Jahres ohne Entgelt zu unterrichten«31. Diese kostenlose Schule stand bereits 1760 auch »zahlenden« Schülern offen. Pfarrer und Kaplan hatten die Aufgabe, den Schülern eine allgemeine Grundbildung beizubringen und jenen Schülern, die für eine kirchliche Laufbahn oder für das Amt eines Notars bestimmt waren, eine tiefere, kulturelle Bildung zu vermitteln.
1617 war in Rimella die Bruderschaft von S.Spirito tätig, die »über Felder verfügte, die 10 Scheffel Roggen im Jahr hervorbrachten« und »die Priore gingen von Haus zu Haus um die großzügigen Gaben zu sammeln …«. Der Gesamtertrag wurde dafür genutzt, am Himmelfahrtstag die Brote zu backen, die unter den einheimischen Armen, den Fremden und den so genannten »Nachbarn«, d.h. den Gemeindemitgliedern, verteilt wurden32.
Ausführlichere Angaben über diese Kongregationen finden wir in dem vom Rimeller Notar Alberto Colombo 1728 verfassten Bericht über den Stand und die Verwaltung der frommen Orte in Rimella.
Die bereits 1625 entstandene Bruderschaft des SS. Sacramento als auch die Oratorien haben ihre eigenen Verwaltungsorgane: für das SS. Sacramento einen Schatzmeister, einen Prior und andere Beamte, die alle zwei Jahre neu gewählt wurden; sie verwalteten die Güter und mussten jährlich »vor dem Kurator und den Mitbrüdern im türkisen Gewand« Rechenschaft ablegen; für die »alteingesessene Armenalmoseneinrichtung« gab es einen Kurator, der jährlich vor dem Pfarrer und dem Volk über die Verwaltung Rechenschaft gab, sowie einen Almosensammler, für die Oratorien die Vertreter der Ville (Dörfer), die sich jährlich abwechselten und deren Abrechnungen vor allen Landbesitzern vom Kurator entgegengenommen und verabschiedet wurden. Notar Colombo schreibt auch, dass »die Almosen zu Gunsten der Oratorien verwendet werden, in denen, heute noch, jedes Jahr am Tag ihres Heiligen Patrons, während der Bittgänge sowie bei der Sakramenterteilung für die Leidenden und für so manchen Frommen Gottes- dienste abgehalten werden«.
Die Oratorien, die »teils eine halbe Meile, teils eine Meile und teils zwei Meilen von der Kirche« entfernt liegen, sind verschiedenen Heiligen gewidmet.

Die Tätigkeiten der Bruderschaften und der Oratorien helfen, den Ursprung und die Art der Dorfverwaltung zu verstehen, die durch ein autonomes Entscheidungs- und Verwaltungssystem und der Wechselwirkung zwischen ziviler und kirchlicher Autorität gekennzeichnet war. Auch durch die abgeschiedene Lage Rimellas bedingt, dauerte diese Situation weit über das napoleonische Zeitalter hinaus an.
Das öffentliche Leben im Dorf wurde von den Beschlüssen bestimmt, die von der »Nachbarschaft« in den einzelnen Siedlungen in öffentlichen Versammlungen getroffen wurden. Jeder Erwachsene der Gruppe konnte an den Versammlungen teilnehmen, Außenstehende waren meist ausgeschlossen. Die Versammlungen fanden am Platz vor dem Oratorium statt und wurden durch Glockenläuten angekündigt. Jeder hatte das Recht zu sprechen, die letzten Entscheidungen trafen jedoch die Landbesitzer, die auch den Schatzmeister ernannten, der ein Jahr im Amt blieb und wiedergewählt werden konnte. Um zu vermeiden, dass die Macht zu lange in Händen einer Familie blieb, wurde ein System vorgeschrieben, laut dem die Amtsinhaber regelmäßig ausgewechselt werden mussten. Diese Gepflogenheit ist heute noch bei den wenigen verbliebenen Einwohnern der Siedlungen üblich. Wählbar waren nur männliche Bürger, welche Redlichkeit und perfekte Kenntnis der gebräuchlichen Normen und Regelungen aufweisen konnten. Diese Tradition hielt sich bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und die öffentlichen Versammlungen fanden immer noch am Platz vor dem Oratorium oder bei Schlechtwetter und im Winter in den Innenräumen statt. Während der Zeit der landwirtschaftlichen Tätigkeiten wurden diese Versammlungen regelmäßig abgehalten, konnten aber zu dringenden Anlässen durch Glockenläuten ausgerufen werden. Die Anliegen und Forderungen waren vielfältig und führten manchmal auch zu heftigen Streitigkeiten. Man versuchte jedoch diese immer im Rahmen zu halten, denn in einer »geschlossenen Gesellschaft« wie Rimella konnte es sich niemand erlauben, von den anderen abgesondert zu werden. Die ordentlichen Entscheidungen betrafen die allgemeine Organisation des täglichen Lebens, die Wassernutzung, die Arbeitsaufteilung zur Instandhaltung der Pfade und Wege, sowie der Schneeräumung. Letztere betraf nur die so genannten »Totenwege« , d.h. jene Wege, die traditionsgemäß bei Taufen, Trauungen und Beerdigungen benutzt wurden.
Die Oratorien mit einem eigenen Vermögen aus Erbschaften und Legaten von kleinen Wäldern und Grundstücken, konnten mit den Pachteinnahmen kleine Instandhaltungsarbeiten des Allgemeingutes finanzieren, und den Schwächeren, den Alten und in Not befindlichen Menschen Hilfe leisten. Der jährlich von den Mitgliedern gewählte Schatzmeister war direkt für die Verwaltung des Oratoriums verantwortlich und besorgte die Buchhaltung sowie die Aufstockung der Güter und Gelder. Zur Aufstockung der finanziellen Mittel trug auch der heute noch übliche Brauch bei, die anlässlich der Feierlichkeiten des Schutzpatrons in der Siedlung gesammelten Gaben nach der Messe am Kirchenplatz zu versteigern.
Eine Wirtschaft die gerade zum Überleben reichte, die Bergflucht und die schwierigen Verkehrswege bestimmten das Leben der Rimeller im 17. und 18. Jh. und waren der Hintergrund für die Geschichte im 19. Jh. und auch im zwanzigsten Jahrhundert33. Wirtschaftsgrundlage waren vor allem die Viehzucht und die Verarbeitung der Produkte, insbesondere Molkereiprodukte, die bis ins tiefe zwanzigste Jahrhundert mit immer gleich bleibender Vorgangsweise betrieben wurde. Es folgte der Getreideanbau – der Roggenanbau war bis zum 19. Jahrhundert häufiger – sowie der Anbau von Hülsenfrüchten und Gemüse. Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden auch Wiesen und Wälder bewirtschaftet. Heute sind die weitläufigen, steilen Wiesen von Wäldern überwachsen und die Bergflucht macht sich immer deutlicher bemerkbar. Die Viehzucht musste dem Anbau von Kartoffeln weichen, dadurch veränderte sich die Ernährungsweise der Bevölkerung stark. Alle anderen Lebensmittel (Mais, Salz, Reis) wurden in der Ebene gekauft , vor allem in Varallo, das damals nur auf einem sechsstündigen, oft gefährlichen Fußmarsch erreichbar war. Wie ein 1828 vom Notar Michele Cusa verfasster Bericht34 bekannt gibt, bestand die Tauschware der Rimeller aus »Butter, Käse, Leder und jungen, vor wenigen Tagen geborenen Kälbern«. Aus diesem Bericht geht ebenfalls hervor, dass »die Wolle im Dorf gesponnen und zum Großteil zu einem groben Tuch verarbeitet wird, Halbwolle genannt, das zur Bekleidung vieler Menschen beider Geschlechter dient«. Cusa weist außerdem darauf hin, dass ein gutes Drittel der Männer zwischen 14 und 50 nach Novara und Vercelli auswanderte, um dort Berufe wie »Gastwirt, Koch, Kellner und Fassträger« auszuüben, während Maurer und Tischler ihrem Erwerb in Fobello und Campello nachgingen. Cusa schreibt den Bevölkerungswachstum von Rimella zu jener Zeit der Tatsache zu, dass die Auswanderung in nahe oder relativ nahe Orte stattfand. Die Jugend schien damals für weiterführende Studien sehr geeignet, denn es herrschten Sittlichkeit und »Gutigkeit«, aber es fehlten die nötigen Mittel; fast alle Einwohner beiden Geschlechts konnten lesen und schreiben. Eine geordnete und solidarische Gesellschaft also – wenn man von »kleinen Diebstählen absieht, sowie manchmal waffenlosen Schlägereien, die in einem Jahrzehnt jedoch nie mehr als zwanzig waren«. Rimella verfügte damals über zwei Priester, einen Diakon, einen Notar, einen pensionierten Maler aus S.M. in Rom und bei den Handwerkern über dreißig Maurer, zwanzig Tischler, vier Schneider, zwei Weber und einen Schuster, ohne die Angestellten der fünf Mühlen des Kanton Grondo zu rechnen.
Im Jahr 1837 wurde ein erster Teil des Weges von Rimella nach Varallo ausgebaut und konnte auch als Reitweg benutzt werden. Die erste Fahrstraße wurde dem Verkehr im Abschnitt Varallo–Baraccone erst im Jahr 1866 übergeben und gegen Ende des Jahrhunderts folgte dann der Abschnitt Baraccone – Grondo, wo dann über fünfzig Jahre lang die Straße endete. Gleich nach Kriegsende wurde der Abschnitt von Grondo nach Chiesa geplant und dann sehr langsam gebaut. Von hier führten Abzweigungen zu allen Siedlungen, ausgenommen nach St. Anna, das am oberen Teil des Flusslaufes des Landwasser liegt. Heute gibt es wohl eine gut ausgebaute Strasse, aber es leben fast keine Menschen mehr hier.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt die Neuzeit mit einem gut bevölkerten Rimella und man war durch die zivilen und kirchlichen Strukturen in der Lage, sich selbst zu regieren. Rimella hatte eine der schönsten Kirchen der Valsesia sowie zahlreiche weitere kirchliche Bauten, Zeugen der Religiosität der Einwohner35 und verfügte über gut funktionierende Schulen und eine für die damalige Zeit außerordentliche Einrichtung, über das Museum G.P. Filippa.
Die Viehzucht und die Landwirtschaft hatten sich wieder belebt, obwohl sie zur Ernährung aller nicht ausreichte. Die Handwerkertätigkeit – in Grondo funktionierten Sägwerke und Mühlen – und der einheimische und auswärtige Handel36 blühten wieder auf. Die Verkehrsverbindungen waren jedoch unangemessen und oft gefährlich, die Abwanderung in nahe und ferne Länder groß. Die Häuser und Sennereien in den Siedlungen sind ein wahres Denkmal der Baukunst und der gute Geschmack der Bevölkerung verschönert heute noch eine geologisch harte und wilde Landschaft.
Die Zeit aber ändert sich dramatisch: sie ist von Abwanderung, Schließung von Schulen37 und anderen Ereignissen gekennzeichnet, die Bauen bereits in den siebziger Jahren fest- gestellt und beschrieben hat38.
Anlässlich der Einweihung der neuen Pfarrkirche im Jahre 1788 benutzte der Bischof von Novara, Mons. Balbi Bertone, das Wort »Basilika«. Die Kirche ist reich an wertvollen Marmor- und Holzkunstwerken sowie an Malereien. Im Jahre 1862 wurde die Kirche mit einer von den Brüdern Mentasti aus Novara gebauten Orgel ausgestattet, die vor kurzem vom unermüdlichen, ehrenwerten Pfarrer restauriert wurde.
Wir unterlassen weitere Einzelheiten über den künstlerischen Wert des Baues39, kommen aber nochmals auf die große Gläubigkeit der Rimeller zurück. Durch ihre Hilfe entstanden zwischen dem 17. und 18. Jh. zahlreiche kirchliche Bauten, Oratorien, Kapellen und Kapellchen, die sich in den Siedlungen und entlang der Gehwege befinden,40, eine Art »Biblia pauperum« mit Bittschriften und Anrufen in Latein. Hier war Analphabetismus fast unbekannt, man verstand daher die Schriften, die auch im Religionsunterricht oder während der Messen erläutert wurden. Weitere Informationen über Rimella erhalten wir aus Artikeln von A. Lovato, der den Gesamttext eines 1829 vom Rimeller Notar Michele Cusa angefertigten Dokumentes wiedergibt, und jenen von M. Remogna und F. Vercelli- no,41 die jeweils in der Zeitschrift Remmalju 1999, 1995 und 1994 erschienen sind. Aus dem von Roberto Lovato veröffentlichten Cusa-Dokument erfahren wir, dass es in Rimella »eine Schule gibt, in der man lesen, schreiben, die italienische Sprache, Mathematik und Latein lehrt. Diese wird von 40 Jugendlichen besucht, die zusehends Fortschritte machen und wird von Herrn Gio. Ubezzi geleitet, der glaubhaft einen Philosophiekurs besucht hat. Würde man sagen, dass die Schule von Rimella hinsichtlich der Methodik, der Leitung, der Ordnung und des augenscheinlichen Gleichgewichtes der Schule von Valsesia nicht nachsteht, wäre es keine Übertreibung«42.
Aus dem umfassenden Artikel des Remogna nur einige frei entnommene Informationen:43
… in S. Gottardo waren die Kinder »alle in einem Raum« untergebracht , sie wärmten sich mit dem von den Eltern abwechselnd geschnittenen und mittels Hucken beförderten Gemeindeholz, Teresa Cusa war eine gute Lehrerin , sie wurde dann aber die Haushälterin von Don Vasina. Weiters: »… es handelt sich um eine von der Gemeinde eingerichtete Landschule, die einen ‚echten’ Lehrer hat, das heißt einen diplomierten […] während zur Zeit der […] Grosseltern der Unterricht meist von willigen, anerkannten aber nicht diplomierten Frauen gehalten wurde. Der Religionsunterricht,«dottrina« genannt, wurde vom Schneider Rinoldi und von frommen Frauen, meist Samstags, in der Kirche vor einem Altar abgehalten und vom Pfarrer dann abgeprüft«. Aus Statistiken aus dem 19. Jahrhundert und einem handgeschriebenen Heft im Museum Filippa geht hervor: »dass die Menschen beider Geschlechter fast alle lesen und schreiben können«.
Die im 18. und 19. Jahrhundert abwechselnden Besetzungen – Savoyen, das revolutionäre und das napoleonische Frankreich, weiters das Reich Sardinien und das Königreich Italien – haben die gewohnte Lebensweise der Rimeller nicht wirklich beeinflusst. Spuren dieser Zeit finden wir im Museum Rimella wieder und aus einer von Bauen veröffentlichen tittschu-Erzählung wird von einer Salzsteuer und einem Volksaufstand berichtet, der sich durch das »Aufhissen einer roten Mütze auf einem Stock« ausdrückte, worauf der König den Befehl gegeben haben soll, »das Dorf in Feuer und Flamme zu setzen«; der Befehl wurde gottlob nicht ausgeführt.
Die gefährlichsten Feinde Rimellas waren Feuer, Wasser und Schnee. Im 19. Jh. Ereignete sich eine erschreckende Anzahl von Bränden, Überschwemmungen und Lawinenstürzen. Die Brände zerstörten das Rathaus (1813) – das schon erstmals 1697 abgebrannt war – mit allen Archiven, sowie ganze Siedlungen – Chiesa im Jahre 1818 und Prati (En Matte) im Jahr 1853. Häuser wurden zerstört und alte Dokumente gingen in Flammen auf. Der Fluss Landwasser drohte am 27. August 1834 die gesamte Siedlung Fraktion Grondo zu überfluten. Die Überschwemmung des Jahres 1880 hat in Molini (Tse Mijene) eine ganze Gruppe Walser Häuser weggeschwemmt, die später aus Stein wiedererbaut wurden; die Flut des Jahres 1900 hat eine wahrscheinlich vierhundert Jahre alte Brücke in dem so genannten Gebiet »der zwei Gewässer«, eben dort wo der Landwasser in den Mastallone mündet, zerstört.
Vom Spätherbst bis Frühlingsanfang ist die Lawinengefahr allgegenwärtig. An den Tod einer ganzen Familie durch eine Lawine vor dem Jahre 1861 in Prati erinnern zwei große und vier kleine eiserne Kreuze, die von tragischen Todesfällen zeugen. In den Jahrbüchern wird zum Beispiel an den schrecklich langen und besonders schneereichen Winter 1887/1888 erinnert. In Rimella mit damals mehr als 1000 Einwohnern wurden keine Opfer verzeichnet, der Ort blieb jedoch für lange Zeit von der Außenwelt abgeschnitten. 1973/74, fielen in der Siedlung S. Gottardo in der Zeit zwischen Spätherbst und Frühling über acht Meter Schnee. Solche Naturereignisse gingen an der örtlichen Wirtschaft nicht spurlos vorüber. So wird aus dem Jahre 1840 bestätigt, »die von Brunnen und Bächen nur gering bewässerte Bodenwirtschaft besteht nur aus Wäldern, Weiden, Heu und Kartoffeln. Handeln konnte man nur mit den ersparten Produkten aus der Viehwirtschaft«44.
Die bescheidene Wirtschaftslage, die trotz der neuen Verkehrsverbindung Varallo Rimella weiter anhielt, hinderte die Rimeller nicht daran, im 19. Jh. in sogar drei Siedlungen – Chiesa, S Gottardo und S. Antonio – Volksschulen mit vier Unterrichtklassen einzurichten, zu denen im Jahre 1837 die fünfte Klasse hinzukam. In den Jahren 1862/63 wurde die alte, abgenutzte Orgel der Pfarrkirche durch eine neue, von den Brüdern Mentasti gebaute, ersetzt45. Auch die Bautätigkeit, so die Erhaltung, Sanierung oder Bau von Brücken, Häusern und Kirchen nahm zu und man zog vorwiegend Rimeller Baumeister heran.46 Im 19. Jh. nahm die Auswanderung weiter zu; die Rimeller arbeiteten im Ausland als geschickte Maurer, Holzfäller, Knappen aber auch als Gastwirte und Kellner. Mit ihren Verdiensten unterstützen sie die Familien, trugen zur Bildung der Jugend bei, zur Restaurierung und Verschönerung der Kirchen und spendeten auch für Wohltätigkeitszwecke. Zahlreiche Rimeller litten unter physischen oder psychischen Behinderungen, die wahrscheinlich teilweise auf die weit verbreitete Endogamie aber auch auf die schwere und gefährliche Arbeit zurückzuführen waren.
Das 19. Jahrhundert klang für Rimella in Bezug auf den Einwohnerstand, die Selbstregierung, die Ordnung und das Gefühl der Menschen, einer soliden Gemeinschaft anzugehören, zufriedenstellend aus.
Ein besonderes Ereignis erregte zur Jahrhundertwende noch die Gemüter: der Besuch durch Margherita von Savoien, der Königin Italiens. Die Chronik überliefert diesen Besuch auf einem einfachen, handgeschriebenen Schulheftblatt im Museum von Rimella: Ein festliches Dorf wird beschrieben, das seine Königin bei Madonna del Rumore unter einem mit Weiden und Blumen geschmückten Bogen und einem Chor von sechzig Mädchen im schönen Trachtenkostüm empfängt. Die Königin wird dann nach Chiesa zur offiziellen Begegnung mit der Bevölkerung geleitet.
Da die Themen der Auswanderung47, der Verkehrs und Kommunikationsverbindungen48 und der Wohnhäuser49 ausführlich in der Zeitschrift Remmalju und in den anderen schon erwähnten Werken abgehandelt werden, wird nun das Rimella des 20. Jahrhunderts, bis hin zu den letzten Jahrzehnten, mit der Geschichte oder besser gesagt mit der Chronik der heutigen Gemeinschaft von Rimella beleuchtet.
Das 20. Jahrhundert beginnt für Rimella recht gut, endet aber trotz der zahlreichen Bemühungen einer Gruppe unternehmungsbegeisterter Menschen leider ganz anders. Man versuchte vor allem den Kern der Identität dieses Volkes, Sprache und Kultur zu retten. Die Jugend stand aber diesen Anstrengungen eher gleichgültig gegenüber, sei es durch die bereits stark verbreiteten Medien, aber auch die neue Denkweise der modernen Gesellschaft lässt keinen Platz mehr für eine aktive Teilnahme an den Problemen der Gemeinschaft. Diese Entwicklung stand im krassen Gegensatz zu den Gepflogenheiten und den Jahrhunderte alten Traditionen der Walser von Rimella .
Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges blieb das Dorf weiterhin abgesondert und zwar nicht nur der Mundart wegen (tittschu wird noch allgemein gesprochen), sondern auch in sozialer Hinsicht: die Verwaltung wurde von den Staatsgesetzen geregelt, die Land- und Viehwirtschaft durch das bereits seit Jahrhunderten bestehende Gewohnheitsrecht. Dieses Merkmal einer »abgesonderten«, in sich geschlossenen Gemeinschaft hat dazu geführt, dass die nationalen und die weltweiten Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ebenso wie die Krise der Dreißiger Jahre, auf den Lebensablauf und die Wirtschaft in Rimella keinen Einfluss hatten. Die Wirtschaftslage war aufgrund der bekannten Umstände schon äußerst kritisch und beinahe am Überlebenslimit angelangt. Man betrieb die Land- und Viehwirtschaft nach wie vor mit Techniken und Mitteln, die sich seit Jahrhunderten nicht geändert hatten. Dies zumindest bis 1944, als die Bevölkerung selbst direkt in die Kriegsereignisse verwickelt wurde. Außerdem hat »der Anbruch der Industriegesellschaft und die unverständliche Herabsetzung der Land  und Viehwirtschaft […] Rimella zu einer Entvölkerung verdammt, die anders war als jene der vergangenen Jahrhunderte50«. Deutliche Signale waren die Schließung der blühenden Mittelschule und dann der Volksschule des Dorfes in den neunziger Jahren »aufgrund des Geburtenrückganges und der hohen Kosten«.
Heute zählt man in Rimella drei ständig ansässige Kinder, zwei im Schulalter und ein Kleinkind. Die Meldedaten der Gemeinde aus dem Jahr 1989 sind sehr deutlich: Einwohner 215, Geburten 3, Verstorbene 651. Die Mitwirkung der Einwohner am Dorfleben ist jedoch noch sehr rege, wie die Anteilnahme von 76% der Bevölkerung an den Gemeindewahlen im Mai 1990 zeigt.
Die Eröffnung eines Hotels Anfang des 20. Jahrhunderts in Rimella ist für die »geschlossene Rimeller Gemeinschaft« Zeichen einer stärkeren Öffnung und Beziehung zur Außenwelt. In der Valsesia sah man bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Tourismus eine neue Einnahmequelle und in den schönsten Örtlichkeiten wurden zahlreiche Hotels errichtet. Im Jahr 1913 eröffnete das Rimeller Ehepaar Virginio und Maria Fontana in der Siedlung Chiesa ein komfortables Hotel. Man hatte die Absicht, dieses Hotel, das heute noch denselben Namen trägt, »zum Aushängeschild dieser Gemeinde« zu machen52.
Die Anmerkungen und Kommentare der Kunden im Gästebuch berichten über die bedeutendsten Ereignisse im Dorf bis ca. 1950, mit einer Unterbrechung in den Jahren 1943/44. Man liest über die jungen Männer von Rimella, die am ersten Weltkrieg teilnahmen, Erinnerungen an die Gefallenen, die Einweihung der neuen Glocken im Jahre 1924. Der Faschismus wird deutlich durch das mit römischen Ziffern angeführte Datum, einige lakonische Andeutungen auf die vierziger Jahre, wie die Zeichnung eines Hakenkreuzes samt einem Liktorenbündel mit dem Motto »Usque in finem« und der Aufschrift »Vincere« und die eindeutig spätere Hinzufügung »und in der Tat …« Fast nichts dagegen findet man über die Jahre 1943/44 außer einem Datum und einen für die Widerstandsbewegung, in die das Dorf verwickelt war, bedeutungsvollen Satz: »2/1/1944 letzter des Faschismus, Franco der Rebell«. Es ist das Datum der Besetzung des Dorfes durch die Widerstandskämpfer von Moscatelli.
Die dreißiger Jahre vergingen ohne große Erschütterungen für Rimella und auch für das Hotel, das aber in seinem Gästebuch einige Beschwerden verzeichnet, denn: »die Strasse ist steil und beschwerlich, es fehlt immer noch die Elektrizität«. In den dreißiger Jahren wurde auf Initiative des Rechtsanwaltes Giuseppe Ubezzi in Grondo ein kleines E Werk gebaut, das das Wasser des Landwasser nutzte. Das Gemeinde E Werk wurde bis zum Anschluss an die regionale Elektroleitung im Jahr 1967 von der Familie Ubezzi aus Chiesa geleitet.
Andere Quellen informieren uns näher über die dreißiger Jahre und die Verwicklung Rimellas in den Krieg.
So fällt eine Reihe von Anordnungen auf, die sich auf die Schule beziehen: mit Beschluss des Podestà im Dezember 1927 wird festgelegt, dass das neue, sich im Endbau befindliche Schulhaus den »für die Heimat Gefallenen« gewidmet wird und dass an der Fassade eine Gedenktafel mit den Namen der Helden, dem Wappen der Savoia und dem Emblem des Liktorenbündels angebracht werden soll. Ein Beschluss des Podestà erteilte im März 1930 der Rimeller Einwohnerin Teresa Cusa »den Auftrag zur Volksschullehrerin« in der Siedlung S. Gottardo. Im Dezember 1937 verfügte ein weiterer Beschluss des Podestà die Einrichtung der 5. Volksschulklasse in Rimella, und dass diese Klasse mit Landkarten aller Kontinente, sowie jener Ostafrikas ausgestattet werden sollte53.
Rimella wurde während der Kriegszeit direkt in die Widerstandskämpfe der Partisanen des Moscatelli und den Nazifaschisten verwickelt. Rimella wurde zuerst von den einen und dann von den anderen besetzt und im März 1944 bombardiert, wobei glücklicherweise keine Opfer zu beklagen waren. Unter der Besetzung der Faschisten sollte das Dorf als Vergeltungsmaßnahme in Brand gesteckt werden, was jedoch dank des Eingriffes des damaligen Pfarrers Don Giuseppe Buratti vermieden werden konnte. Der tapfere Pfarrer, an den die Rimeller dankbar zurückdenken, verstarb 1949.
Die Ereignisse, die in anderen Staaten und in Italien das politische Leben dramatisch prägten – Klassenkämpfe, Parteikämpfe – fanden in Rimella wenig Echo. A. Lovato stellt fest » dass die starke Beziehung zur Kirche und die tief eingeprägten traditionellen Werte eine antiklerikale Verhaltensweise sowie politische Stellungnahmen in der Rimeller Gesellschaft nicht zuließen und jedenfalls auf eine Minderheit beschränkt waren«. Als Bestätigung dafür nennt er das Wahlergebnis des 2. Juni 1946, in dem »212 Stimmen für die Monarchie und 130 für die Republik« verzeichnet wurden. Und Lovato sagt weiter, dass »der Hang zu katholischen Parteien in Rimella beachtlich war. 1946 erhielt die De mocrazia Cristiana 57% der Stimmen und bei den Wahlen vom 18. April 1948 sogar 70%.54
Die sozialwirtschaftliche Situation des Dorfes bleibt weiterhin von großer Armut gekennzeichnet. Bereits 1930 geht aus einem dem Präfekten von Vercelli gesandten Bericht hervor, »wie besorgniserregend die finanzielle Situation der Gemeinde Rimella sei und dass dies vor allem daher komme, dass die laufenden Kosten mit außerordentlichen Zuwendungen finanziert werden mussten und es unmöglich war, die Einnahmen zu erhöhen«. Noch gravierender erscheint die Situation in einem Schreiben, das der Bürgermeister von Rimella an den Präfekten von Vercelli sandte, mit welchem er um Vergünstigungen für Rimella ansuchte. Der in der Zeitschrift Remmalju vollständig veröffentlichte Text55 besagt, dass die Bevölkerung im Jahre 1922 von 965 Einwohnern auf 665 gesunken ist und die Verbindungsstrasse nach Varallo immer noch in Grondo endet und daher die Siedlungen nur über steile Wege und einige sogar, wie S. Anna und S. Gottardo, nur mit einem zweistündigen Fußmarsch erreicht werden können und dass die Schule in S. Gottardo geschlossen ist und die Kinder gezwungen sind, über schnee und lawinengefährdete Wege bis nach Chiesa in die Schule zu gehen. Es wird außerdem darauf hingewiesen, dass sich »die Gemeindebilanz vorwiegend auf die Viehsteuer stützt, die dort oben gezwungenermaßen gravierend ist […], das Landwirtschaftsjahr sich auf einige wenige Monate beschränkt und der Ertrag nur aus Kartoffeln und einem Heuschnitt, der nicht vor Juni getätigt wird, besteht […] und der letzte Winter wegen des starken Schneefalles besonders schwer war wodurch Rimella über mehrere Monate von der Außenwelt abgeschnitten wurde. Man war ohne Lebensmittel da die Sepral sich weigerte, für Reservelebensmittel zu sorgen, sich die Familien – zum Teil Großfamilien mit sechs bis sieben Kindern– nur von Polenta und Reis ernähren konnten, und zu den steigenden Lebensunterhaltskosten auch die Transportkosten hinzukommen. Der Bürgermeister bittet daher um: 1. die Abschaffung der Agrareinkommensteuer; 2. die Zuwendung der Einnahmen aus der Erhöhung der Einkommensteuer; 3. die Bereitstellung eines Lagers für Lebensmittelreserven im Winter; 4. Zuwendungen in Geld oder Naturalien für die Großfamilien und für die alten und arbeitsunfähigen Landwirte, die nicht mehr imstande sind, eine ertragreiche Arbeit zu leisten […]«.
Diese Aussagen des Rimeller Bürgermeisters Vasina machen klar, in welch dramatischer Lage sich Rimella in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts befand. Trotz dieses negativen Bildes kämpften die Menschen in Rimella in einem tiefen Gefühl der Zusammengehörigkeit und mit alterprobten Mitteln weiter, pflegten ihre Sprache, das tittschu, ebenso wie ihre Traditionen, gemeinsam und im tiefen Vertrauen auf Gott. In den Siedlungen, auf den Feldern, den Wiesen, in den Wäldern, auf den Almen und entlang dem Bach ist das Leben immer noch rege. In Grondo, im Hause des »PrestiNo« (wörtlich!) wird immer noch Brot gebacken und die Mühle mahlt immer noch den Mais zu Mehl mit dem das magru zubereitet wird.
In der zweiten Jahrhunderthälfte schwand all dies langsam aber stetig, von den 431 Einwohnern des Jahres 1961 verblieben 2001 nur mehr 140, es wurden neue Lebensformen und andersartige Tätigkeiten gefunden. 1960 wurde das Rathaus, in dem sich auch die Schule befand, samt allen Dokumenten durch einen Brand komplett zerstört. Der Gemeinderat stellte sofort die Geldmittel für ein neues Gebäude zur Verfügung, in dem neben der Schule auch eine Arztpraxis untergebracht werden sollte. Zur Realisierung tragen auch die bereits seit den fünfziger Jahren laufend zur Verfügung gestellten Geldmittel des Abgeordneten Giulio Pastore bei.
Im Jahr 1961 zerstörte eine Überschwemmung die Brücke der Madonna del Rumore, die in kürzester Zeit wieder errichtet wurde. Im August desselben Jahres wurde in Rimella der Verkehrsverein gegründet. Seele dieser Initiative war Rechtsanwalt Luigi Ottone, der diesen Verein als unbedingt notwendig für das Wiederaufleben und die Entwicklung des Dorfes sah. Um den Berg zu retten, meinte er, müsse man ihn lebensnah gestalten »mit all jenen Infrastrukturen, die das Leben etwas erleichtern, ohne jedoch den Berg zu zerstören oder dessen Originalität und Umwelt zu beeinträchtigen«56.
Das Problem der Infrastrukturen war umfassend: die Brücke der Madonna del Rumore musste neu gebaut werden; die Fahrstraße von Grondo nach Chiesa über Villa Inferiore hinaus verlängert werden; die Wasserleitung, die Stromleitung (der Anschluss von Rimella an das regionale Netz wird erst 1967 erfolgen), die Telefonleitung waren weitere Probleme und der Tourismus musste neuen Aufschwung erhalten. Der Verkehrsverein schrieb sich in den Tourismusverband der Provinz ein, um die dringend notwendigen Beiträge zu erhalten. Außerdem begann Rechtsanwalt Ottone als Vertreter des Verkehrsvereins, in Zusammenarbeit mit dem Gemeinderat und mit Hilfe des Abg. Pastore, die Probleme von Rimella dem Ministerium für Öffentliche Arbeiten sowie der Präfektur, dem Landhaus, dem Bauamt von Vercelli, dem Rat der Valsesia und dem Konsortium der Bergbonifizierung zu unterbreiten. Neben diesen Initiativen muss auch das große Walser Treffen erwähnt werden, das am 15. September 1964 in Rimella stattfand, an dem Delegationen aller Walser Gemeinschaften aus der Schweiz, Vorarlberg, Liechtenstein und dem Piemont teilnahmen. Neben vielen anderen Initiativen im Bereich des Gesundheitswesens, der Aufwertung der verschiedenen Traditionen und des wunderschönen Rimeller Trachtenkostüms, wurde im Jahr 1961 in Rimella neben der Volksschule auch eine Mittelschule eröffnet. Vorerst wurde der Unterricht nur mittels Fernsehunterricht übertragen, später wurde die Mittelschule ordentliche Außenstelle der Mittelschule von Varallo, in der die Jugendlichen nach dem dreijährigen Schulkurs ihre Schlussprüfung ablegten. In diesen Jahren verstärkte sich auch das Interesse der Schweizer Sprachforscher für das Rimeller tittschu und Prof. M. Bauen beginnt (1965) seine langjährige Forschungsarbeit über diese Sprache. 1969 wird das moderne und brandsicher gebaute Gemeindehaus fertig gestellt. Im Gebäude werden auch die Schule, das Postamt und eine Arztpraxis untergebracht.
Im März 1971 wurde Rimella durch einen ungewöhnlich starken Schneefall von der Außenwelt abgeschnitten. Strom und Telefon fielen aus. Im darauf folgenden Jahr wiederholte sich dieses Phänomen. Zwischen März und April fielen über drei Meter Schnee, die das Dorf für eineinhalb Monate total isolierten. Telefon und Strom waren unterbrochen und drei Wochen lang war jegliche Kommunikation mit S. Gottardo unmöglich. Zu jener Zeit war Don Angelo Fortina Pfarrer und er dachte, wie wertvoll jetzt eine Funkverbindung wäre. Er war auch über die andauernde Abwanderung der Jugend, nachdem sie die Volljährigkeit erreicht hatten, sehr besorgt. Die jungen Menschen suchten auswärts als Maurer, Kellner oder Köche Arbeit und Don Angelo Fortina war immer mehr davon überzeugt, dass man Arbeit an Ort und Stelle schaffen musste57.
Im Juli 1976 wurde die Genossenschaft Mettjene Chilco GmbH gegründet, die sich mit der Anfertigung von elektronischen Verdrahtungen für Chemiker  und Apothekenwaagen u. ä. für die Firma Gibertini aus Novate Milanese befasste. Die kleine Fabrik gab in ihren besten Zeiten bis zu 20 jungen Leuten Arbeit, heute beschäftigt sie nur mehr 10 Personen. Nach den schwierigen Anfängen in den Räumlichkeiten der Propstei von Rimella hat die Fabrik heute ihren Sitz in einem neuen, 1979 eingeweihten Gebäude. Obwohl dadurch weder die Abwanderung der Jugend aus dem Dorf noch die Schließung der Schule in den neunziger Jahren verhindert werden konnte, kann man sagen, dass dieses Unternehmen einen gewissen Fortschritt brachte. Neue Initiativen entstanden, wie das jüngst unterzeichnete Abkommen zwischen der Gemeinde und der Landwasser GmbH zur Stromgewinnung durch die Nutzung der zwei Rimeller Bäche und eine gewisse Aufwertung des Tourismus machte sich bemerkbar. Die Viehzucht, einst Kern der Dorfwirtschaft, schwand immer mehr und beschränkt sich heute in der Sommersaison auf drei Almen, die ausschließlich von Frauen geführt werden. Dort werden aber immer noch hervorragende Butter, Käse und Quark hergestellt.
Das Ende des 20.Jahrhunderts ist von Abwanderung, der Schließung der Schulen und anderen Ereignissen gekennzeichnet, die Bauen bereits in den siebziger Jahren festgestellt und beschrieben hat.
Die Zukunft von Rimella scheint im Tourismus zu liegen. Die Aufwertung der reichen Walser Kultur, die fast unberührte Umgebung, eine heile Natur, scheinen gute Voraussetzung dafür zu sein. Die Gemeinde hat in diesem Sinne bereits verschiedene Initiativen unternommen, die das Naturschutzgebiet Alta Valsesia betreffen; eine Abteilung für Völkerkunde im hiesigen Museum ist auch geplant.
Eine neue Tourismusbewegung macht sich in der Ortschaft bemerkbar. Es siedeln sich hier Menschen aus der Ebene an, aber auch aus dem Ausland. Meist handelt es sich um Rimeller, die einst ausgewandert sind und nun in ihre Heimat zurückkehren. Aber auch Personen aus dem Ausland, die einfach von dieser Gegend begeistert sind und nun Häuser und Sennen von den Einheimischen aufkaufen und renovieren. Diese »Neuen«, die zwar nicht ständig hier wohnen, werden in die Verwaltungsstruktur des Dorfes mit einbezogen und nehmen auch am öffentlichen Leben teil. Es handelt sich sozusagen um eine moderne Art der Wiederbesiedlung. Aber auch die Gemeinde selbst hat zu dieser neuen Tendenz beigetragen. Ebenso die Erweiterung und Modernisierung der öffentlichen Infrastrukturen wie Wasserleitung, Kanalisation, Beleuchtung und Straßennetz und der Nutzung der Gewässer. Die gemeinsame Verwaltung des Val Mastallone mit der Comunità Montana und die durch Region, Provinz und Comunità Montana selbst angeregten Initiativen zur Erhaltung der einzelnen Komprensorien sind weitere, bemerkenswerte Schritte. In diesem Zusammenhang wurden auch alle Sicherungsarbeiten der Verbindungsstrasse Varallo Rimella durchgeführt. Die kleine Gemeinde hat erkannt, dass die Sicherheit der Verkehrsverbindungen eine weitere, wichtige Voraussetzung für die Entwicklung des Fremdenverkehrs ist.
Die Gemeinde Rimella befindet sich heute in einer kritischen Situation, die sich laut Prof. Rinoldi bereits Mitte des 20. Jahrhunderts abzeichnete. In einer Welt, die sich der massiven Industrialisierung öffnete, hätte man die Viehzucht und die Landwirtschaft in den Berggebieten besonders fördern müssen. Da dies jedoch nicht der Fall war, zogen die Einwohner in die Ebene, in die nahen Industriestädte. Wie bekannt, zermürbt ein ständiges Hin und Her vom weit entlegenen Wohnort zum Arbeitsplatz auch das beste Familienleben, daher trachten die Familien sich am Arbeitsort zu vereinen.
Eine Wende in diesem langsamen Abwanderungsprozess schien sich mit der Gründung des Walser Studienzentrums, das vor ca. 15 Jahren entstand, in Rimella abzuzeichnen. Man versuchte, in den Einwohnern den Stolz auf die eigene Sprache und Identität wieder zu wecken, veranstaltete Treffen, die als Mittelpunkt die Sprache und die Geschichte der Gemeinschaft hatten. Leider sind trotzdem nur wenige Einwohner verblieben und das Dorf lebt nur – außer an den Wochenenden – zu manchen großen Kirchen  oder Zivilfeierlichkeiten wieder auf. Die bis Mitte des vorigen Jahrhunderts florierenden Schulen sind geschlossen. Die Kinder müssen mit großer Mühe, besonders in den Wintermonaten, in das 9 km entfernte Dorf gebracht werden; die Jugendlichen reizt das Stadtleben und sie sind wenig daran interessiert und auch motiviert, die Traditionen beizubehalten, die Sprache und die eigene Geschichte zu kultivieren und das Aussehen ihres Heimatdorfes zu pflegen.
Heute gibt es hier keine Wirtschaftskrise, die Rimeller sind ausgezeichnete Maurer, verdienen gut und außerdem gibt es die Möglichkeit im Ort selbst bei den Renovierungsarbeiten der Häuser und der Instandhaltung des Verkehrsnetzes zu arbeiten. Die Einwohnerzahl beträgt derzeit 120, aber ständig ansässig sind nur mehr 60. Die Gemeinde verfügt nach wie vor über geringe, finanzielle Mittel.

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1 M. Manio, Parole lette in occasione della solenne distribuzione dei premi agli alunni delle scuole comunali di Rimella, Novara, Tip. Vescovile, 1905, p.4
2 ibid, p.13
3 ibid., p.20, nota 1
4 A. Vasina, 22 luglio – Nascita del vocabolario “TS REMMALJERTITTSCHU ITALIANO-TITTSCHU, in Remmalju 1997, p.8
5 E. Vasina, Una prestigiosa figura di rimellese, il Prof. Luigi Rinoldi, in Remmalju 1993, p. 22
6 A. Vasina, Ricordo di Marc Bauen glottologo dei Walser, in Remmalju 1994, p.2
7 M. Bauen, Sprachgemischter Mundartausdruck in Rimella(Valsesia, Piemont), Bern, Stuttgart 1978 e nella traduzione di E. Vasina, uscita col titolo La lingua di Rimella (Valsesia Piemonte) tra cultura alto tedesca e italiana, CSWR, Borgosesia, 1999, p.20.
8 E. Rizzi, in M. Bauen, op, cit., trad. It., p.6
9 E. Rizzi, Storia dei Walser, Fondazione Monti, 1992, p.63
10 A. Vasina, Alle origini della Comunità Rimellese, in Remmalju 1994, p. 28 e sgg.
11 A. Lovatto, Notizie statistiche concernenti la comunità di Rimella:1828, in Remmalju 1999, p.12
12 A. Vasina, op. cit., con riferimento a “Le pergamene di S. Giulio d’Orta e dell’Archivio di Stato di Torino”, a cura di G. Fornaseri, Torino 1958.
13 A. Vasina, ibid.
14 A. Vasina, Note di storia sociale rimellese fra Quattrocento e Cinquecento, Remmalju 1998, p.42 e segg.
15 A. Vasina, ibid., p. 43; Silvia Pizzetta “Il notaio Emiliano Calcino di Rimella”. De Valle Sicida n° 1/1995, pag. 275 e in Remmalju 1996, Pag.13
16 Marco Bauen, op. cit. traduz. it. pag. 397.
17 Silvia Pizzetta “La Cappella-Ossario di Rimella”, Remmalju 1994, pag. 5. “La casa a Rimella”, Remmalju 1996, pag.13.
18 Mario Remogna, “Casa Robbo a Sella”, Remmalju 1993, pag. 13
19 Silvia Pizzetta, De Valle Suicida, op. cit., 1/1995, pag. 275.
20 Michele Manio, op. cit., Appendice, Pag. 20.
21 Marco Bauen, op. cit., trad. it., pag. 398.
22 Ferruccio Vercellino, Cenni storici sul tronco di strada per Rimella: Baraccone, Frazione Grondo, Remmalju 1993, pag. 30.
23 P. Filippo da Rimella, Orazione in onore di Santa Gioconda Martire, Milano 1790. (L’opuscolo a stampa , purtroppo mutilo nell’ultima parte, è in possesso della Sig.na Piera Rinoldi abitante a Rimella Al- bergo Capio)
24 Rina Dellarole Cesa, Luoghi pii del Comune di Rimella dell’anno 1728, Remmallju 1996. pag. 33; cfr. F. Tonella Regis, Laparochiadi Rimella nella cima della Valle, in De Valle Sicida, op. cit., n°1/1995, pagg. 303 segg.
25 Paolo Sibilla, I luoghi della Memoria – cultura e vita quotidiana nelle testimonianze del contadino valsesiano
G. B. Filippa 1778–1838, op. cit., e Una Comunità Walser delle Alpi, op. cit.
26 Ferruccio Vercellino, Emigrazione della Comunità di Rimella nel XIX secolo, Remmalju 1991, pag.12.
27 Marco Bauen, op. cit. traduz. it. pag. 401, nn. 32, 33, ma anche P. Sibilla, Una Comunità Walser delle Alpi, op. cit., pag. 30 e segg..
28 Mario Remogna, Cibo e attività agro-pastorale nella vita quotidiana di Rimella, Remmalju 1994, pag.17.
29 Sara Bruno, Testimonianzerimellesi nei documenti dell’Archivio storico della Diocesi di Novara, Remmalju 1996, pag. 30.
30 Franca Tonella Regis, La Parochia di Rimella nella cima della valle, De Valle Sicida, n. 1/1995, pag. 312.
31 Sara Bruno, loc. cit. pag. 32.
32 Sara Bruno, ibid.; F. Tonella Regis, DeValleSicida, cit., pag. 313.
33 M. Remogna, Ciboe attività agro-pastorale nella vita quotidiana, in Remmalju 1994, pag. 17 e segg.
34 A. Lovatto, Notizie statistiche concernenti la Comunità di Rimella 1828, in Remmalju 1999, pag. 8 e segg.
35 L. Rinoldi, Manoscritto cit.
36 Alberto Lovatto (a cura di), Notizie statistiche concernenti la comunità di Rimella: 1828, Remmalju 1999, pag. 8
37 Piergiorgio Vasina, La cosa pubblica a Rimella, Remmalju 1995, pag. 32
38 Marco Bauen, op. cit., pagg. 29 e 31
39 C. Debiaggi, S. Michele, la chiesa parrocchiale di Rimella, in Remmalju, 1999, pag. 25
40 Rita Dellarole Cesa, La memoria e il tempo. Mastri costruttori a Rimella, Remmalju 1997, pag. 45
41 Ferruccio Vercellino, Cennisui documenti d’archivio relativi alla scuola elementare di Rimella, Remmalju 1994 pag.37
42 Alberto Lovatto, Notizie statistiche concernenti la Comunità di Rimella: 1828, cit.
43 Mario Remogna, Storie di bambini di montagna, Remmalju 1995, pag. 27
44 M. Remogna, Cibo e attività agro-pastorale della vita quotidiana di Rimella, Remmalju 1994, pag. 18
45 A. Sacchetti, L’organo antico della Chiesa prepositurale di Rimella: una risurrezione annunciata, Remmalju 1998, pag.5
46 vgl. R. Dellarole Cesa, zit., Remmalju 1997, S.45
47 F. Vercellino, Emigrazione della Comunità di Rimella nel XIX secolo, cit., Remmalju 1991, pag. 12
48 M. Bauen, ital. Übers. Zit. S. 29; P. Sibilla, Una Comunità Walser delle Alpi, zit. S. 30 und folgende
48 S. Pizzetta, Le case walser di Rimella, Remmalju 1999, S. 33
50 P. Vasina, La cosa pubblica a Rimella – Problematiche e speranze di un Comune di alta montagna, in Remmalju 1995, S. 32
51 Dal Municipio,Remmalju 1990, S. 16
52 E. Fontana, Album dell’Albergo Fontana, Remmalju 1993, pag. 7 e segg.
53 F. Vercellino, Cennisui documenti di archivio relativi alle Scuole Elementari di Rimella – Anni 1943–1947,
Remmalju 1994, S. 37
54 A. Lovatto, Placò gli urti, salvò gli altri. Ricordando don Giuseppe Buratti Parroco di Rimella dal 1942 al 1949, Remmalju 1997, S. 35
55 F. Vercellino, Rimella, un’attesa senza fine. Considerazioni su un documento del 1946, Remmalju 1995, S. 37 e segg.
56 E. Bovio, Avv. Luigi Ottone – Pro Loco di Rimella, Remmalju 2002, S. 23
57 A. Fortina, Mettjene Chilcho s. r. l. in Rimella, Remmalju 1992, S. 29
BRAUCHTUM

Zahlreiche Traditionen haben im Laufe der Zeit das Leben der Rimeller Einwohner gekennzeichnet. Einige der alten Bräuche sind durch die weltweiten Veränderungen, die auch Rimella stark beeinflusst haben, für immer verloren gegangen, andere dagegen konnten aufrecht erhalten werden und kennzeichnen bei bestimmten Ereignissen das Dorfleben.
Leben und Tod werden den Rimeller Bürgern seit Jahrhunderten vom Glockenläuten angekündigt; dieses bestimmte vor der Zeit der Massen Medien den täglichen Lebensablauf dieser kleinen Siedlung. Die Glocken wurden auf Initiative des damaligen Pfarrers Don Severino Vasina und mit Beiträgen aller Rimeller, auch jener die in die Schweiz oder nach Frankreich ausgewandert waren, von der Firma R. Mazzola aus Valduggia umgeschmolzen und 1923 eingeweiht.
Die 5 Glocken, die jeweils 800, 600, 410, 350 und 240 kg wiegen, mussten vom 980 m hohen Grondo zu Fuß bis nach Chiesa ( 1200 m) gebracht werden. Auf jeder Glocke waren der Name, das Gewicht, der Ton, die Namen der Paten und die der Kriegsgefallenen, denen die Glocke gewidmet war, eingraviert. Dies galt auch für die Glocke des Oratoriums in S.Gottardo (149 kg) und für die von S.Antonio (64 kg), die zur gleichen Zeit auf Kosten der Landbesitzer der beiden Siedlungen umgeschmolzen wurden. Aus einem Dokument von G. Strambo1 wissen wir, dass die große Glocke Kampanun hieß und dass das Gewicht, der Ton (e), der Name der Glockenpaten sowie die Widmung an die Kriegsgefallen in Libyen (1911) und an die im Ersten Weltkrieg Gefallenen eingraviert waren.
Der Kampanun kündigte mit einem ununterbrochenen Läuten einen Brand, das Verschwinden eines Menschen und den Tod des Dorfpfarrers an. D’Mettesstle war der Name der zweiten Glocke, den beiden Heiligen Gioconda und Luigi gewidmet. Sie kündigte die Mittagszeit mit zuzüglich drei Anschlägen (bot) des Kampanun an sowie auch den Beginn der Festtagsmesse, das morgendliche und das abendliche Ave Maria, den Tod eines Menschen, in tittschu »agonia« genannt. In diesem Fall wurden die Glocken sehr langsam, dreimal alle 5 Minuten mit je 30 Anschlägen geläutet und mit einem bot des Kampanun beendet: ein bot für den Tod eines Mannes, zwei für den einer Frau und drei für ein Mitglied der Bruderschaft des SS. Sacramento.
Die dritte Glocke, z’nuwa genannt, kündigt die Messe an den Arbeitstagen an. Die vierte, z’toeta, kündigt den Tod eines Menschen am Tag vor dem Begräbnis nach dem Mittagsläuten an, sie wird dreimal mit je 100 Anschlägen geläutet. Auf Anfrage der Familie und für die Rimeller, die außerhalb des Dorfes begraben werden, kann sie auch am Sonntag, der dem Begräbnis folgt, nach dem Mittagläuten geläutet werden. Die kleinste der Glocken, die z’passa, wird ausschließlich zur Ankündigung des Todes eines Mitgliedes der Bruderschaft des SS Sacramento geläutet.
Der Tod eines Kindes bis zum Schulalter wurde um 16.00 Uhr mit dem abwechselnden Läuten der Mettelste und der Toeta angekündigt. Auch das Ritual der letzten Ölung wurde zuerst mit dem bot des Kampanun dann mit dem Geläute der z’nuwa und anschließend mit dem Geläute aller Glocken kundgetan. Die Frauen, die hinter dem Pfarrer gingen, trugen einen dunkelblauen Schleier.
Der Samstag und der Vorabend (virabu) jeden Feiertages wurden zuerst vom Läuten der zweiten Glocke, mit dem bot des Kampanun, dann vom Langläuten der dritten Glocke angekündigt.
Die 33 Kampanunanschläge erinnerten jeden Freitag um 15.00 Uhr an das Alter und den Tod Christi und die folgenden drei Anschläge erinnerten an die drei Agoniestunden. Auch der Messebeginn und die wichtigsten Momente der Liturgie wurden nacheinander von den ersten drei Glocken angekündigt. Der Kampanun läutete zur Auferstehung. Zu den Traditionen des Glockenläutens gehört auch der Klang der Strambu, die das Gebet des Rosenkranzes vor dem Ave Maria ankündigt. Die Glocke wurde nach der Familie Strambo getauft, die der Kirche ein Vermächtnis als Fürbitte für ihre Seelen hinterließ.

Remmalju: Mädchen in Tracht

Remmalju: Mädchen in Tracht

Diese Ankündigungen durch Glockengeläute zeigen uns wie stark der Glaube in diesen Menschen ist, der sich in der festen Bindung zwischen den Mitgliedern der Gemeinde widerspiegelt und bis in den Tod dauert. Alle Rituale, wie die Prozession zum Friedhof, die Pflege der Gräber, die Wachen mit Rosenkranzgebeten im Haus des Verstorbenen am Vorabend des Begräbnisses und die Gedenkgottesdienste sind Ausdruck einer tiefen Religiösität.
Die Tradition, nach dem Beerdigungsgottesdienst Brot oder Salz an die Armen zu verteilen, wurde von den Verwandten des Verstorbenen immer respektiert. Heute sind es Zucker, Reis und Teigwaren die verteilt werden, manchmal als symbolische Geste auch Brot.
Andere Traditionen die mit Taufe, Verlobung und Heirat zusammenhingen, aber heute kaum mehr gebräuchlich, werden in den Werken von Prof. Sibilla sowie in den Artikeln von Dr. Remogna im »Remmalju« erwähnt, so auch die Tradition des Brotaustausches am Himmelfahrtstag, an dem die Rimeller in das nahe gelegene Fobello gehen um das Freundschaftsbrot entgegenzunehmen und dann zu Pfingsten die Einwohner von Fobello nach Rimella kommen um dasselbe Geschenk auszutauschen. Ebenso zu erwähnen ist das Fest der Heiligen Gioconda, das jedes Jahr am 15. August mit großer Feierlichkeit begangen wird. Die »Alten« erzählen, dass diese Tradition bis ans Ende des 18. Jahrhunderts bestand und es scheint, als habe die Heilige selbst den Willen zum Ausdruck gebracht, in Rimella angebetet zu werden. Als die wunderschöne Urne, die einst die sterbliche Hülle des Heiligen Agabio und nun jene der Heiligen Gioconda enthielt, von Varallo herauf getragen wurde und die Träger, die aus Fobello stammten, an der Straßengabelung den Weg in Richtung Fobello einschlugen, wurde die Urne so schwer, dass sie nicht weiter getragen werden konnte bevor sie nicht den Weg in Richtung Rimella einschlugen. Traditionsgemäß wird die Urne alle 25 Jahre in feierlichem Umzug von der Pfarrkirche in die verschiedenen Siedlungen gebracht.
Im Jahre 2001 brachte man die Urne in der Nacht zum 12. August von Chiesa bis nach S.Gottardo. Alle Einwohner und zahlreiche Touristen (man zählte über 700 Personen) nahmen an dem Festzug teil. In S. Gottardo wurde die Urne zur Anbetung aufgestellt um dann am Abend des darauf folgenden Sonntags in die Pfarrkirche zur feierlichen Messe und dem Dankes Tedeum zurückgebracht zu werden. Es war für Rimella ein sehr eindrucksvolles Ereignis: die Nacht war klar, der Himmel von unzähligen Sternen erleuchtet, die Ortsteile Prati, Sella und Villa Superiore in denen die Urne unter Weiden und Blumen geschmückten Bögen für die ritualen Gebete anhielt, hell beleuchtet. Außer den Lichtern der einzelnen Siedlungen bildeten die brennenden Kerzen in der schwarzen Nacht eine Lichterschlange bis S. Gottardo, das ebenfalls in hellem Licht erstrahlte, und auf den Almen der umliegenden Berge brannten hohe Feuer. Die große Teilnahme der Rimeller an der Feier ihrer Schutzpatronin zeigt, wie sehr gewisse Traditionen auch heute noch in den Herzen der Menschen verankert sind. Als Dank hat Pfarrer Don Giuseppe Vanzan am Ende des Gottesdienstes die traditionelle Dankesformel benutzt: Vrattus Got vàr àlla di, Ljebuschile, vàr welz z’ maischta mànglut z« dinu(n)tire, under und titschun vàrt, »Gott vergilt das erhaltene Geschenk und das Gute gehe zu Gunsten all Deiner Verstor benen, vor allem jener die es am meisten benötigen, hundert und tausendmal vervielfacht«.
Mit dem Alltagsleben hing auch anderes Brauchtum zusammen, so der Almauf und Abtrieb, der jeweils am 24. Juni zu St. Johannes und am 29. September zu St. Michael stattfand. Der Zyklus der landwirtschaftlichen Arbeiten fing für die Rimeller in der Regel am 25. April zum Hl. Markus an und wurde mit einer Messe in der gleichnamigen Kapelle gefeiert.
Uralte Bräuche regelten das Verhalten der Rimeller in den verschiedenen Jahreszeiten, auch die Viehzucht und die Landwirtschaft unterstanden bestimmten althergebrachten Regeln. Die Auswanderer waren abgereist und wer blieb machte sich daran, alle Vorbereitungen für den Viehauftrieb auf die Alm zu treffen, Vorbereitungen, die mindestens2 Wochen vor dem Johannistag begannen. Wichtig war das Almenfest, das traditionsgemäß am Tag vor dem Almabtrieb stattfand. In der Nähe der Almen wurden große Lagerfeuer entfacht und die Atmosphäre war von ungewöhnlicher Freude geprägt, wenn die Kinder mit Gesang, Tanz und besonderen Speisen das Feuer mit trockenen Ästen, Alpenrosenbüscheln und was immer auffindbar war, anfachten.
Zu den Rimeller Traditionen gehört auch der Fasching , dessen Ursprung sich zwar in grauer Vorzeit verliert und heute noch, wenn auch auf andere Weise, seine ganze Lebendigkeit bewahrt hat. Ohne auf Bauen zurückzugreifen, der bereits in seinem Buch die Erinnerung der Menschen an eine Karnevalsnacht2 beschreibt, wird nachfolgend der Inhalt einer Tonaufnahme für das Tonarchiv wiedergegeben3. Die befragte Person, die es vorzog beim Gespräch »ihr italienisch« zu benützen, erzählte dass sich alle »ein bisschen amüsieren« wollten. Der Urgroßvater hatte erzählt, »dass sie sich einmal aus Spaß alle am Platz in Chiesa trafen. Jemand brachte das Butterfass, natürlich mit Sahne gefüllt, und alle anderen hatten auch etwas mitgebracht. Sie haben Sahne geschlagen, die Polente gekocht und am Platz getanzt, vielleicht hatten sie auch ein paar Würste dabei, alle lachten und scherzten, es ging ihnen besser als heute, sie verstanden sich besser als heute. Jetzt dagegen […] ist alles anders«. In dieser Beschreibung fehlen die Einzelheiten, die sich jedoch bei Bauen finden, der von der Maskierung spricht: »… man verkleidete sich als Bräutigam, als Braut, als Teufel« und dass sich der Umzug in den am höchsten gelegenen Siedlungen bildete und dann von Ortsteil zu Ortsteil , flankiert von Menschen jeden Alters, »teils Alte, teils Junge«, bis Grondo herunter kam. Wer nichts anderes besaß, verkleidete sich, indem er einfach einen Sack überzog; das Vergnügen war jedenfalls groß.
Das Fest zieht viele Einheimische und Touristen an; man verteilt typische Speisen wie die paniccia. Gesang, Musik und Tanz animieren das Fest, das nicht nur zu einem Anziehungspunkt, sondern auch zu einer guten Einnahmequelle für Rimella geworden ist.
Erhalten blieben für die Rimeller vor allem jene Bräuche, die mit Geburt und Tod zusammenhängen. Nicht nur die heute sehr selten Neugeborenen, sondern auch jene der Ausgewanderten, die zu diesem Anlass in das Heimatdorf zurückkehren, werden in der Pfarrkirche mit einer berührenden Zeremonie nach uralten Bräuchen getauft. Mit ihrer malerischen Tracht bekleidet, bringen sie den Täufling zur Kirche. Der Umzug wird von der Patin eröffnet, die die geschmückte Rimeller Wiege trägt, die sie hoch über ihren Kopf hält. Der Pfarrer erwartet die Prozession am Kirchentor. Mit der Taufzeremonie tritt ein neuer Christ in die Rimeller Gemeinschaft ein.
Der stark empfundene Totenkult drückt sich auch in der Totenwache im Haus des Verstorbenen aus, wo sich die Einwohner versammeln um den Rosenkranz zu beten. An den Begräbnissen nehmen viele Menschen teil, man pflegt die Gräber liebevoll und hält Gedenkmessen für die Verstorbenen, der die Verteilung von Salz, Zucker, Brot oder Teigwaren folgt. In alten Zeiten wurde am Ende der Rosenkranztotenwache manchmal eine Münze ausgeteilt.
Ein anderer bemerkenswerter Brauch ist die »Versteigerung« , die nach dem Gottes dienst am Tag der Feier des Heiligen, dem die Kirche oder das Oratorium gewidmet ist, abgehalten wird. Es handelt sich um die Versteigerung der Gaben der Gläubigen, deren Erlös der Kirche oder dem Oratorium zukommt. Jede Siedlung, aber auch jede Alm hat ihr eigenes Fest, an dem auch die Nachbarn teilnehmen. Auch Touristen kommen gerne zu diesen attraktiven Festen. Große Anteilnahme erfährt auch das Brotfest (Himmelfahrt). Sehr wichtig ist auch der 15. August, Tag an dem die Feiern zum Himmelfahrtstag und die der Schutzpatronin S. Gioconda, zusammenfallen. Andere Traditionen hängen mit der Viehzucht zusammen, die heute nur mehr von Frauen betrieben wird und eigentlich keine Zukunft hat. Nur noch drei Familien besitzen Viehbestände. Diesen Familien wird im Sommer der kleine Viehbestand anvertraut, der noch im Dorf besteht.
Beachtlich ist die Teilnahme der Rimeller an den Walser Treffen, wo sich die Jugendlichen mit originellen Darstellungen zu übertreffen versuchen.

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1 G. Strambo, Le campagne di Rimella - D'Remmalju Klocke, Remaljau 1990, S. 6-7. Wir weisen an diesem Punkt darauf hin, dass die Rechtschreibung der tittschu Namen gegenüber jener des genannten Artikels, die der Unsicherheit der tittschu Niederschrift zur Zeit der Artikelveröffentlichung zuzuschreiben ist, abgeändert erscheint.
2 M. Bauen, ebd. S. 344
3 Archivio sonoro 2001 (Rim - GE 1.1.B)

DIE SPRACHGEMEINSCHAFT

Die Sprache von Rimella, das Tittschu, wird von den Gelehrten zur Alpin Alemannischen Gruppe gezählt1. Es handelt sich um in Italien gesprochene deutsche Mundarten, die teilweise stark von den Dialekten der alemannischen Siedler abweichen, die sich ab der Mitte des 13. Jahrhunderts, vom Wallis kommend, um den Monte Rosa niederließen und zwar in der Region Piemont in Bosco Gurin, Formazza, Ornavasso, Rimella, Rima, Rimasco und Alagna, in der Region Valle d’Aosta in Issime und Gressoney. Bis vor kurzer Zeit war das Tittschu die normale Umgangssprache sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft. Alle offiziellen Dokumente der Gemeinschaft wurden auf italienisch abgefasst, der Schulunterricht und die Messe in der Kirche erfolgten ebenfalls in italienischer Sprache. In den 70er Jahren stellte Bauen fest, dass die Rimeller ausnahmslos Deutsch sprachen und dass: »die Kinder der ersten Klasse am Schulanfang nicht im Stande waren ein Wort italienisch zu sprechen«2. Zehn Jahre vorher hatte er persönlich dieses Volk studiert, ihre Sprache erlernt und mit ihnen auf den Sommeralmen und in den Siedlungen gelebt, um auch die wahre Geschichte des Dorfes zu erfahren, die, wie er sagte »auf den Lippen der Menschen geschrieben stand«. Über die Sprache von Rimella gibt es nichts Schriftliches, abgesehen von den kurzen Notizen, die von Schweizer Forschern Anfang des 19. Jh. im Laufe von Kurzbesuchen in Rimella aufgezeichnet wurden. Es gab weiters Versuche, christliche Texte niederzuschreiben, etwa die Parabel des verlorenen Sohnes, die zehn Gebote und das Vaterunser sowie einige Gedichte, wo sich italienische und tittschu Strophen3 abwechselten.
Die schriftliche Aufzeichnung des ursprünglichen Rimeller Dialektes führte zu einer weitläufigen Debatte, als man in Rimella vor dem Problem stand, welche Schreibart für das Remmaljertittschu Italienisch Tittschu Wörterbuch anzuwenden sei. Der Druck und die Herausgabe dieses Wörterbuches waren bereits 1990 vom Walserstudienzentrum geplant worden. In einer Rezension schreibt S. Dal Negro in der italienischen Zeitschrift für Dialektkunde: »[…] für den Grundaufbau der Arbeit wurde das Rimellerdialekt Wörter buch von M.Bauen herangezogen […] das treffendste Ergebnis dieser Zusammenarbeit liegt in der glücklichen Auswahl der angewandten Schreibweise und zwar der so genannten einheitlichen Schrift, ein vereinfachtes System das mit wenigen Abweichungen für die Niederschrift aller alemannischen Dialekte verwendet wird«4.
Rimella wurde als Sprachinsel, die einen wertvollen Wortschatz mit uralten Elementen bewahrt, bereits Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem Objekt großen Interesses für viele Schweizer Sprachforscher. In jüngster Zeit interessieren sich auch italienische Sprachforscher (Fazzini, Dal Negro, Di Paolo) für Rimella.

Remmalju: S. Gottardo (z'Rund) im Sommer

Remmalju: S. Gottardo (z' Rund) im Sommer

Die Liste der Schweizer Sprachforcher ist lang. Die ersten Untersuchungen gehen bis auf das Jahr 1834 zurück als M. Schottky zweimal Rimella besuchte und Mundartausdrücke und Ortsnamen aufschrieb, wobei er bemerkte dass: »hier ein sehr primitiver deutscher Dialekt gesprochen wird«5.
Im Juni 1958 führte eine Studentengruppe der Berner Universität unter der Leitung von Professor Zinsli eine Reihe von Aufnahmen und Untersuchungen des Brauchtums und der Ortsnamen durch. Zuletzt begann Professor Bauen6 im Sommer 1965 im Auftrag von Professor Zinsli in Rimella mit seinen ersten systematischen Untersuchungen des Tittschu im Zusammenhang mit dem geographischen Umfeld und der Geschichte des Dorfes.
Die sehr gut dokumentierte Sprachanalyse betrifft die Phonetik, die Morphologie, den Wortschatz und die einzelnen Eigenheiten des Satzbaues in Bezug auf den italienischen Satzbau, der Zusammensetzung und der Vermischungen des Satzbaues. Die weitläufige Studie stellt den Rimmeler Dialekt »als eine buntgemischte Zusammensetzung deutscher und italienischer Satzteile« dar. Der Autor zeigt sich überrascht »vom deutlichen und starken italienischen Einfluss sowie dem Überwiegen des deutschen Wortschatzes wie auch der zahlreichen Sprachbesonderheiten die immer noch als Walserdeutsch erkennbar sind«. Insbesondere »ist die Morphologie immer noch ausnahmslos deutsch und eng mit dem deutschen Wortschatz verbunden […]. Der Satzbau dagegen ist der Bereich, in dem sich der italienische Einfluss massiv auswirkte wodurch dieser eine überwiegende Bedeutung zur Beurteilung der Mundart annimmt«7. Wenn die Phonetik der ursprünglichen deutschen Walsersprache, so Bauen, zu einer guten Hälfte italienisch ist, so »bedient sich diese in den 70er Jahren einer noch nicht vermischten, von der bodenständigen Bevölkerung gesprochenen Sprache mit einem deutschen Wortschatz und mit intakter deutscher Morphologie, die sich jedoch an eine stark romanisierte Satzbildung anlehnt und das Rimeller Deutsch bezüglich einiger Satzzusammensetzungen bereits die Schwelle zum Übergang ins Italienische erreicht hat«.
Paradoxerweise und im Gegensatz zu anderweitigen Beobachtungen, ereignete sich die Umstellung der Satzbildung vor dem Wortschatzwechsel. Bauen stellte außerdem fest, dass sich das Rimeller Deutsch nicht nur »in gefährlicher Nähe des Übergangsmomentes zum Italienischen« befand sondern auch, »sollte man nicht bald den andauernden Bevölkerungsrückgang einschränken und Rimella durch wirtschaftliche und soziale Maßnahmen wieder beleben, mit dem Verlust der Sprache und der Zersplitterung der Gesellschaft gerechnet werden müsse«. Er beendete dann seine Überlegungen mit einem bitteren Ton: »am Ende wird es kein Remmaljertittschu mehr geben«.8
Jüngste Studien scheinen viele Anmerkungen des Schweizer Forschers zu bestätigen. S. Dal Negro bezieht sich auf eine im Jahre 1900 bei allen Walsergemeinschaften südlich der Alpen durchgeführte Volkszählung, die sich auf die Sprache bezog. Daraus ging hervor, dass »die Bevölkerung von Rimella sowohl vom volkskundlichen als auch vom sprachlichen Gesichtspunkt eine der kompaktesten ist, da auf eine Einwohnerzahl von 1007 Menschen 1005 (99,8%) deutschfreundlich sind« wogegen sich in Alagna, zur gleichen Zeit, der Prozentsatz auf 69,9% und in Issime auf 56,2% belief. Derzeit sind Informationen von Di Paolo (1999) bekannt, der im Jahr 1996 noch 90 Walserdialekt sprechende Menschen nachweist (56,6%der 158 Gesamteinwohner ), als auch über die Untersuchungen von Giocosa (2000), aus dessen Studie hervorgeht, dass alle in Betracht gezogenen Menschen italienisch können und benutzen, fast alle die Piemonteser Mundart sprechen während eine kleinere Gruppe auch deutschfreundlich ist oder zumindest eine passive Kenntnis des deutschen Dialektes besitzt.9
Viele Brände haben die Gemeindearchive und im 17. Jahrhundert auch die Pfarrarchive zerstört. Somit ist so gut wie keine Dokumentation vorhanden außer wenn man von den von M. Bauen als sichere und genaue und glaubwürdige Angaben bezüglich der Predigten und dem Religionsunterricht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und dem wahrscheinlichen Verbot seitens des Königs von Sardinien Carlo Felice die deutsche Sprache und deutsche Namen zu benutzen10 absieht. Vom sprachlichen Gesichtspunkt ist auch die Information bezüglich der Italienisierung der Familiennamen, die auf das 14. Jahrhundert11 zurückzuführen sei, von Bedeutung.
Da in Rimella sowohl die Volksschule als auch die Mittelschule seit den neunziger Jahren geschlossen sind, wird natürlich weder die Sprache noch in der Sprache unterrichtet. In den noch bestehenden Volksschulen wird ab Jänner 1991 durch das Walser Studienzentrums von Rimella ein Tittschu Sprachkurs abgehalten und ein Abend Tittschukurs, an dem die nicht mehr schulpflichtige Jugend teilnimmt. Weiters gibt es eine Initiative, um den Einwohnern die Sprache näher zu bringen und deren Gebrauch zu unterstützen. Das Walser Studienzentrum beauftragte Frau H. Bauen und Prof. D. Vasina, den Einheimischen in einem Kurs zu erklären, wie man einen Tittschutext schreibt und liest. Im Jahr 2002 folgte dann auf Anregung der Gemeinde ein Kurs über die Sprache, die Geschichte und das kürzlich fertig gestellte Tonarchiv; beides wurde vom Walser Studienzentrum organisiert.
Seit langer Zeit werden in der Kirche während der Gottesdienste keine deutschen Lieder mehr gesungen und keine deutschen Gebete gesprochen. Trotzdem wurde auf ausdrückliche Bitte von Frau H. Bauen das Vater Unser auf Tittschu in der Weihnachtsnacht des Jahres 2002 erstmals wieder aufgenommen und eine sprachinteressierte Gruppe hat sich vorgenommen, die Initiative weiterzuführen. Bedeutsam ist auch, dass am Ende des Gottesdienstes zur 25 jährigen Feier zu Ehren der Hl. Gioconda, der Pfarrer sich bei den Anwesenden mit der bereits erwähnten traditionellen Tittschuformel »Vrattus Got …« bedankte.

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1 M. Bauen, Sprachgemischter…, cit.; Il dialetto tittschu di Rimella, in Remmalju 1992, pag. 2; S. Dal Negro e T. Molinelli (a cura di), Comunicare nella TorrediBabele,Carocci, Roma 2002, S. 27; M. C. Di Paolo, Un’indagine sul Remmaljertittscu: il lessico delle attività lavorative domestiche, fascicolo a stampa P.C. 2002
2 M. Bauen, ibid., S. 40.
3 M. Bauen, ibid., S. 367, 382, 383.
4 D. Vasina e C. Buccelloni (a cura di) Ts Remmaljertittschu – Vocabolario Italiano-Tittschu, Rimella C.S.W., 1995, pp. 279, in Remmalju 1998, S. 3
5 M. Bauen, op. cit., S. 411.
6 M. Bauen, ibid., S. 412.
7 M. Bauen, ibid.,S. 295.
8 M. Bauen, ibid., S. 298 e segg.
9 S. Dal Negro e P. Mulinelli, op. cit., S. 32–33.
10 M. Bauen, op. cit., S. 398, nn. 8 e 15; ma anche P. Zinsli, Walser Volkstum …, cit., pag.269.
11 P. Sibilla, Una Comunità Walser delle Alpi, cit., S. 93.

RECHTSVORSCHRIFTEN UND IHRE DURCHFÜHRUNG

Die Rechtsvorschrift zum Schutz des geschichtlichen, sprachlichen und kulturellen Vermögens von Rimella bezieht sich auf folgende Gesetze:
– Regionalgesetz vom 20. Juni 1979 Nr. 30. Das Gesetz anerkennt im Piemont 4 Sprachminderheiten: die Piemonteser, die Provenzalen, die Franco Provenzalen und die Walser. Somit zählte Piemont zur ersten Region mit Normalstatut mit einer Rechtvorschrift zum Schutz der Sprachminderheiten.
– Regionalgesetz vom 10. April 1990 Nr. 26 und folgender Änderungen zum »Schutz, Aufwertung und Förderung der Kenntnis der ursprünglichen Sprachen im Piemont«
– Staatsgesetz vom 15. Dezember 1999, Nr. 482: »Bestimmungen zum Schutz der Sprachminderheiten«. Dieses Gesetz setzt einen Wendepunkt in der Anerkennung der Sprachminderheiten sowohl europaweit als auch auf nationaler Ebene.
Rimella ist von einem starken Einwohnerrückgang betroffen und die Aufwertung der noch verbliebenen Kultur, Traditionen und Sprache und die Anwendung der genannten Gesetze kann nur durch folgende Einrichtungen gewährleistet werden:
– Kultur (durch das Museum, den Schutz der Sprache, der Geschichte, und der Rimeller Kultur)
– Schutz und die Aufwertung der Rimeller Kunstschätze (Pfarrkirche, Oratorien, Wiederinstandsetzung der historischen Gebäude)
– Naturschutz (Park, alte Fußwege, Biotop)
– Initiativen zur Förderung des Fremdenverkehrs

KULTURLEBEN

Dieses kleine Volk, das noch bis vor wenigen Jahrzehnten mit dem Überleben kämpfte und die Einwohnerzahl durch die ständigen Abwanderungen auf ein historisches Minimum sank, hat sich heute durch die zahlreichen Initiativen und Förderungsmassnahmen auch in kultureller Hinsicht wieder erholt. Seine ganze Geschichte ist von bedeutenden Persönlichkeiten geprägt worden, die sich alle für die Erhaltung und die Bereicherung der Kunst und Kulturschätze von Rimella eingesetzt haben.
Heute sind für das Kulturleben das Institut des Museums G.B. Filippa, und verschiedene Vereine, wie auch das Walser Studienzentrum, von größter Bedeutung. Die Instandhaltung, Restaurierung und Aufwertung der Kirchengüter des Dorfes ist der intensiven Tätigkeit des unermüdlichen Pfarrers Don Giuseppe Vanzan zu verdanken.
Das Museum ist ein alteingesessenes Institut, das ein Rimeller Einwohner, G.B. Filippa, Anfang des 19. Jahrhunderts als Privatsammlung gegründet hatte und das ursprünglich den Namen »Kuriositätenkabinett und seltene Gegenstände« trug. Im Jahre 1836 schenkte Filippa seine Sammlung der Gemeinde Rimella, die sie in Chiesa unterbrachte. In Sella, wo sich das Museum früher befand, wurde mit dem Beitrag der Region ein Gebäude angekauft, in dem das neue Öko Museum und das Walser Studienzentrum untergebracht werden sollen.
Befassen wir uns jetzt mit dem Entstehen dieses Kulturinstitutes. Der Gründer, Giobatta Filippa, der im Jahr 1770 in Sella geboren wurde, wanderte Ende des Jahrhunderts aus, eben wie viele seiner Landsleute. Nachdem er dem napoleonischen Heer gedient und in Spanien gekämpft hatte, wurde er 1812 »aus im Dienst erlittener Krankheit« aus dem Heer entlassen. Er zog sich in seinen Geburtsort zurück und widmete seine Kräfte, seine Intelligenz und seinen praktischen Sinn der Erneuerung des Oratoriums von S. Quirico della Sella. Er wurde dort zum Schatzmeister ernannt, ordnete die Münzensammlung, errichtete eine Bibliothek und sammelte seltene Dinge. Er wollte damit den Rimellern ein wenig von der »weiten Welt« zeigen und ihr Interesse und ihre Neugierde wecken. Ein großer Teil dieser Gegenstände bestand aus Geschenken von Einwohnern die aus Arbeitsgründen in verschiedene nordamerikanische1 Staaten ausgewandert waren. Derzeit befindet sich die Sammlung in den Räumlichkeiten eines alten Hauses, das sich sowohl in der Nähe der Kirche als auch der Gemeinde befindet. »Es handelt sich – so Professor A. Vasina – um ein Erbe […] das für die Gemeinde zweifellos bedeutungsvoll ist und für die Bevölkerung Ansporn sein soll, dieses zu schützen und aufzuwerten, neu zu ordnen und die Fundstücke zu klassifizieren.«2 Bei einem Museumsbesuch lässt sich die Geschichte Rimellas bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts zurückverfolgen.
In den letzten Jahrzehnten wurden in den Räumlichkeiten des Museums auch Kunstausstellungen veranstaltet oder 1995 die von der Gesellschaft für die Kultur der Valsesia organisierte große Ausstellung über die Pastoralbesuche in Rimella seit dem 16. Jahrhundert. In den letzten zehn Jahren wurde außerdem von der Gemeinde jährlich eine gut besuchte Fotoausstellung über die Landschaft, das Leben und die Bräuche in Rimella im Laufe der Jahrhunderte organisiert.
Mit dem Walser Studienzentrum von Rimella wird auch das Kulturleben des Dorfes seit ca. 15 Jahren bereichert. Im Jänner 1996 wurde das Studienzentrum von dreizehn Gründungsmitgliedern mit einem neuen Statut als Kulturgesellschaft »ohne Gewinn« umgetauft.3
Das Walser Studienzentrum steht unter dem Motto:

Er haie(n)entracht d asschu under ts chime,
und hawwer noch gbunnut e bljeschpu.
Esch hétschech àrkit, und mu schinetsch
Wé(n)e schtérnu
Wé làng? En ts hüüsch isch mi ljeksch wet …
Wir haben die Asche der Feuerstelle aufgelockert
Und haben noch Glut gefunden.
Sie hat sich erholt und nun glänzt sie
wie ein Stern.
Wie lange noch ? Im Haus ist nur noch wenig Holz …

Trotz »des wenigen verbliebenen Holzes« verdankt man dem Walser Studienzentrum von Rimella quantitativ aber vor allem qualitativ immer bedeutendere Beiträge. Diese beziehen sich nicht nur auf die Kenntnis und die Verbreitung des Rimeller Tittschu sondern auch auf Kontakte mit anderen Walser Gemeinschaften und einen lebhaften Austausch mit Sprachgemeinschaften. Die Zusammenarbeit mit der Gemeinde, der Pfarre, dem Verkehrsverein und anderen Verbänden ist für diese Initiativen besonders wertvoll. Dem Walser Studienzentrum sind folgende Tätigkeiten zu verdanken:
– die ersten Anregungen zu Gunsten der Sprache, die mit Großzügigkeit und Leidenschaft von Professor Dino Vasina belebt wurden, dem wir auch die zahlreichen Übersetzungen ins Tittschu verdanken, die in den ersten Ausgaben der Zeitschrift Remmalju dokumentiert sind;
– die Zeitschrift Remmalju, die seit 1990 mit immer geschätzterer Grafik und Inhaltsqualität kontinuierlich herausgegeben wird;
– das 1995 herausgegebene und von Professor Dino Vasina ausgearbeitete Wörterbuch: »Ts Remmaljertittschu/Italiano – Tittschu«;
– die Veröffentlichung des Buches von M. Bauen, das von Dr. Eugenio Vasina in Zusammenarbeit von Professor Dino Vasina vom Deutschen ins Italienische übersetzt wurde sowie auch weiterer Tittschutexte die, sich von allen anderen unterscheidend, von M. Bauen weder ins Deutsche noch ins Italienische noch ins Deutsch Italienische gemeinsam übersetzt wurden. Professor Vasina verdankt man auch die Niederschrift des Tittschu anhand der letzten von Professor M. Bauen auferlegten Regeln;
– die Videokassetten über Rimella;
– die Vervielfältigung der Tonbänder mit Aufnahmen von Gesprächen, Geschichtserzählungen und von M. Bauen selbst getätigten Interviews , die im Laufe seiner langjährigen Untersuchungstätigkeit über das Rimeller Tittschu zustande kamen und die nach seinem Tod von der Familie der Gemeinschaft von Rimella geschenkt wurden. Diese Tonbänder stellen das erste Tonarchiv des Rimeller Tittschu dar, wie es in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gesprochen wurde; – die derzeitige Ausarbeitung einer gegliederten und ausführlichen Geschichte über Rimella, mit der das Walser Studienzentrum eine Forschergruppe beauftragt hat ,die von Professor Augusto Vasina, der den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Universität Bologna inne hat, geleitet wird. Eine baldige Herausgabe ist zu erwarten.

Das Studienzentrum befasst sich außerdem mit Veröffentlichungen über Rimella in der Presse und im lokalen Fernsehen, im Internet mit einer Webseite, mit jährlichen Veranstaltung der Alpaa in Varallo und der Teilnahme an den internationalen Walsertreffen. Das Kulturleben wird in seiner Gesamtheit auch von den anderen örtlichen Vereinen unterstützt: von dem im Jahr 1949 gegründeten nationalen Verein der Alpini (A.N.A.); vom Faschingskomitee, das eine Jahrhunderte alte Dorftradition am Leben hält, und vom Verkehrsverein. Diesem ist seit seiner Gründung eine intensive auch kulturelle Erneuerungsarbeit zu verdanken, wie die Einführung der Mittelschule im Jahr 1963 und die wirtschaftlichen und sozialen Förderungen4.
Das Bild der kulturellen Tätigkeiten kann nicht abgeschlossen werden ohne die weitreichende, unermüdliche, oft mit persönlichem Einsatz durchgeführte Arbeit des verdienstreichen Pfarrer Don Giuseppe Vanzan für die Restaurierung, Instandhaltung und Verschönerung der Pfarrkirche und der zahlreichen kirchlichen Gebäude zu würdigen. Insbesondere muss auf die bereits erwähnte Restaurierung der Orgel aus dem neunzehnten Jahrhundert hingewiesen werden, die mit dem Beitrag der Region und den Spenden aller Rimeller ermöglicht wurde. Mit einem Konzert von Maestro Alberto Brunelli wurde im Juli 1999 die Übersetzung des Buches von M.Bauen gefeiert und eine Gedenktafel zu Ehren von G.B. Filippa enthüllt. Die Musik von Frescobaldi, Bellini, Perosi und anderen großen Komponisten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts beendete glanzvoll einen für das Kulturleben des Dorfes ereignisreichen Tag. Das Walser Studienzentrum ist auch verantwortlich für:
a) die Organisation von Lehrgängen über die Sprache und die Geschichte von Rimella;
b) die Ausarbeitung seitens einer Forschergruppe unter der Führung von Professor Augusto Vasina der Universität Bologna einer »Geschichte von Rimella«.
c) die starke Unterstützungsarbeit zu Gunsten der Gemeinde und des örtlichen Verkehrsvereins;
d) die Herstellung eines Tonarchivs der Sprache von Rimella;
e) die Verbindungen und der Kulturaustausch mit anderen Walsergemeinschaften auf internationaler Ebene;
f) die Zusammenarbeit mit der Alpaa zum Gelingen der Walsertreffen;
g) die Gründung eines Archivs zur Aufbewahrung aller Veröffentlichungen über Rimella sowie die gesamte Bibliographie, die der Schweizer Sprachforscher und Wissenschaftler M. Bauen bereits seit den 60er Jahren für seine Untersuchungen und die Veröffentlichung seines 1978 erschienenen Buches über die Sprache von Rimella nutzte.

Das Tittschu ist eine einzigartige Sprache, die heute noch durch seine eigenartige Mischung aus altdeutschem Wortschatz und italienischer Satzzusammenstellung tiefgreifenden Nachforschungen unterzogen wird.

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1 A. Del Secco, Guida alla visita del Museo Gio. Batta Filippa di Rimella, Remmalju 1993 S. 3
2 A. Vasina, Il Museo Filippa di Rimella, Remmalju 1990, S. 17
3 Siehe Remmalju 1996, S 2
4 E. Bovio, ebd., Remmalju 2002, S. 23