Aus dem Buch "Lebendige Sprachinseln"

GRESCHÒNEY / GRESSONEY -

Walser Gemeinschaft im Aostatal

GEOGRAFISCHE BESCHREIBUNG

Die beiden angrenzenden Gemeinden Gressoney La Trinitè (1637 m) und Gressoney Saint Jean (1385 m) befinden sich im Aostatal und umfassen ein Gebiet von 135,2 Quadratkilometern. Sie liegen im Talschluss des Valle del Lys, das bei Pont Saint Martin beginnt und am Monte Rosa (4633 m) endet.
Das Gebiet von Gressoney ist in drei Abschnitte geteilt: Oberteil, Mettelteil und Onderteil. Oberteil, der »obere Teil«, umfasst das Gebiet der Pfarre von Gressoney La Trinitè, Mettelteil, der »mittlere Teil« erstreckt sich von den Grenzen von Trinitè bis zum Hauptort Saint Jean, der noch dazugehört, Onderteil, der »untere Teil« reicht bis an die Grenzen der Gemeinde Gaby.
Gressoney grenzt im Norden an die Schweiz, im Süden an die Gemeinde Gaby, im Osten an das Valsesia und im Westen an das Val d’Ayas. Auf dem Territorium von Gressoney befinden sich verschiedene Siedlungen und Almen, die alle noch Namen deutschen Ursprungs tragen. Die Bevölkerungszahl von Gressoney La Trinitè beläuft sich heute auf 302 Einwohner, Gressoney Saint Jean zählt 801 Einwohner.

Greschòney-Saint-Jean: das Dorf

Greschòney-Saint-Jean: das Dorf

DIE GESCHICHTE DER GEMEINSCHAFT

Vor Ende des 8. Jh. gibt es über einer Meereshöhe von 1000 m keine Anzeichen von menschlichen Siedlungen. Ab dem 8.Jh. kamen die Alemannen vom Berner Oberland, nachdem sie sich bereits in den unteren Rheintälern und den Schweizer Voralpen angesiedelt hatten und wurden auf der Hochebene von Goms ansässig. So entstand im Alto Vallese (1200–1400 m) die höchste und außergewöhnlichste Ansiedlung der Alpen.
Die Menschen mussten sich der Höhe und dem Klima anpassen, die Lawinen bedeuteten eine ständige Gefahr und es gab keine Verbindungswege. Sie mussten Mittel fürs Überleben finden und begannen die Wälder zu roden, die Gewässer zu kanalisieren, Pfade und Brücken zu bauen, was ihnen dann Landwirtschaft und Viehzucht ermöglichte.
Die Mulde von Goms verwandelte sich langsam in ein fruchtbares Tal, das raue Bergvolk vermehrte sich schnell und bald gab es nicht mehr genug Mittel zum Überleben. Viele verließen daher ihre Siedlungen und folgten ihrem angeborenen Wanderinstinkt und brachten ihre Erfahrungen in andere, noch unbesiedelte Täler. Vom oberen Gomstal rückten sie nach und nach in die Seitentäler des Wallis ab: links der Rhone in das Binn Tal, den Tälern des Sempione und des Saas, gegen die Hügel Monte Moro und St. Nikolaus, zum Pass von Teodulo; am rechten Ufer der Rhone erreichten sie das Viesch Tal und das Lötschental.
Die Nutzung der hochgelegenen Berggebiete und der Drang weiterzuwandern, führte diese Menschen dann über die Grenzen des Wallis hinaus. Sie stiegen vom Furkapass am Ende des Gomstals herab und zogen das Rheintal entlang: im oberen Teil des Rheins in Richtung Graubünden ließen sie sich in einigen unwirtlichen Seitentälern nieder, so im Medeltal, im Valsertal und im Safiental; im unteren Teil des Rheins stießen sie bis Davos, Kloster und Arosa vor.
Später zogen sie in Richtung Triesenbeg in Liechtenstein und Vorarlberg, wo zwei Täler den Namen der ersten Siedler übernahmen: das Grosswalsertal und das Kleinwalsertal. Nach Italien kamen die Walser vorerst über den Griespass, wo sie Pomatt, das heutige Val Formazza und Valle Antigorio samt der Hochebene von Salecchio besiedelten. Sie stießen dann über den Sempione bis nach Ornavasso vor, in die südlichste Ansiedlung der Walser.
Über die Pässe Monte Moro und Teodulo erreichten die Walser die Talschlüsse südlich des Monte Rosa. Diese ersten Siedler, die sich in geschlossenen Gemeinschaften auf einer Meereshöhe von über 1000 m niederließen, wo es keine Spur von früheren, menschlichen Ansiedlungen gab, nennen sich Walser, ein Wort das von »Walliser« abstammt, also Einwohner des »Wallis Vallese«. Die Walser waren in ihren ersten Niederlassungen fast immer an kirchliche oder weltliche Feudalherren gebunden, konnten sich jedoch bald befreien.
Folgende Urkunden, die sich auf Gressoney und Issime beschränken, sind der erste offizielle Nachweis über die Ansiedlungen der Walser. Am 9. Januar 1218 rief Giacomo del la Porta aus Sant’Orso im Schloss von Quart (Aostatal) den Vertreter des Bischofs von Sion, den Bischof von Aosta und den Aostataler Adel an sein Bett um kundzugeben, »dass er über die gesamten Ländereien im Tale oberhalb von Issime verfüge, ebenso wie jene auf der anderen Seite des Lys, bis zu den Gipfeln der Berge, über die fruchtbaren und unfruchtbaren Gebiete, die Weiden, die Wälder, die Wiesen und die Almen von Gressoney und Verdoby«.
Am 8. September 1377 erklärte eine Gruppe von 30 Siedlern aus dem Gebiet von Orsio oberhalb des Hauptortes Gressoney La Trinitè mit einer notariellen Urkunde, ausgestellt vom Notar Franqui François in einem Haus der Fraktion Noversch: »… direkt von Herrn Ebal di Challand das Almgebiet von Orsio in Feudalbesitz erhalten zu haben und diesen noch zu besitzen. Der jährliche Pacht beträgt acht Goldflorin guten Gewichts, sechs Pfund Butter und jedes zweite Jahr vier Schafe«.
Mit dem 16. Jh. trat eine Verschlechterung des Klimas ein, im darauffolgenden Jahrhundert erreichte sie ihren Höhepunkt und dauerte, mit abwechselnden Phasen, bis Ende des 19. Jh. Die Walser erlitten durch diese neue, klimatische Situation schwere Rückschläge. Das Vorrücken der Gletscher verhinderte die Verbindungen über die am höchsten gelegenen Pässe, zerstörte Weiden und Kulturland und gefährdete manchmal sogar die Wohnsiedlungen. Es genügt eine Abkühlung von einem Grad im Laufe von zwanzig Jahren, damit sich ein Gletscher um 300–400 Meter frontal ausbreitet. Die Walser mussten sich aufmachen um in die Städte und Dörfer der Ebene abzuwandern.
Die Einwohner des Valle del Lys, später Krämertal genannt (Tal der Händler), kehrten in deutschsprachige Städte zurück und zwar in die Schweiz und nach Süddeutschland, wo sie sich bis zu Beginn des 20. Jh. fast ausschließlich der Tuchhändlertätigkeit widmeten.
Das 19. Jh. war diesbezüglich eine sehr einträgliche Zeit. Ab dem 20. Jh. begann ein langsamer Rückgang, da der neue Markt Konfektionskleidung bevorzugte. Die Gressoneyer versäumten es, sich auf diesen neuen Handelszweig einzustellen. Mit dem Beginn des Tourismus wandert auch die Jugend nicht mehr in die Schweiz aus.
Der Erste Weltkrieg rief die Jungen zu den Waffen. Nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg widmeten sie sich lokalen Tätigkeiten wie dem Handwerk, der Landwirtschaft und dem Tourismus.
Der Faschismus verbot den Deutschunterricht in den Schulen und unterdrückte das Interesse für die Auswanderung.
Auch der Zweite Weltkrieg holte die Gressoneyer. Nach ihrer Rückkehr nahmen sie wie der die heimische Arbeit auf oder fanden in den Industriegebieten im Tal Arbeit.
Durch die Errichtung der ersten Liftanlagen (Sessellifte, Seilbahnen, Schlepplifte) verwandelte sich ab dem Jahr 1950 der Elitetourismus in einen Massentourismus, sei es im Sommer als auch im Winter. Es entstanden neue Arbeitsplätze für Einheimische und fremde Arbeiter. Zur Zeit gibt es keine Auswanderung, da alle Arbeitskräfte hier eine Anstellung finden.

Greschòney-Saint-Jean: das Dorf

Greschòney-Saint-Jean: das Dorf

DIE AUSWANDERUNG DER GRESSONEYER HÄNDLER IN DIE SCHWEIZ

Ab dem 15. Jh. bis zum 19. Jh. durchquerten viele Fremde zu Fuß deutschsprachige Länder. Sie trugen ihren chrèzo (eine Art kleiner, tragbarer Kasten) auf den Schultern und wanderten vorerst von Haus zu Haus, dann von Markt zu Markt in der Hoffnung, ihre Ware zu verkaufen. Unter ihnen befanden sich zahlreiche Händler, die aus dem Savoyen stammten, einer unwirtlichen und unfruchtbaren Bergregion, deren Einwohner vor der späteren industriellen Entwicklung gezwungen waren im Ausland zu arbeiten.
Viele Gressoneyer suchten daher in der Ferne Arbeit. Sie überquerten die Alpenpässe und zogen als Händler durch die Lande. Auf ihren Schultern transportierten sie Kleiderstoffe, Wäsche, Schürzen, Seidenstoffe, Handschuhe und Strümpfe. Hatten sie Erfolg so ließen sie sich meistens im Ausland nieder, wo sie Geschäfte gründeten, vor allem für den Verkauf von Kleiderstoffen, Wolle und Seide. Die Tätigkeit dieser Händler war so sensationell, dass bereits im Jahre 1548 das Gressoney Tal, auch als Valle del Lys bekannt, das Krämertal genannt wurde, also »das Tal der Händler«1. Die Gressoneyer kann man mit den heutigen Wandermarktleuten vergleichen; auch sie waren nicht gerade gerne gesehen. Vor allem die Vereinigungen der Handwerker und Handelstreibenden entrüstete sich über diese Konkurrenz. Die Bürger von Bern schlugen zum Beispiel 1531 vor, dass öffentliche Ämter nur an in der Region oder in Bern geborene Personen übertragen werden konnten und nicht an die Schwaben oder an die Gristheneiren (Gressoneyer)2. Dies beweist, wie stark der Zustrom aber auch das Ansehen der Gressoneyer war.

Dank ihrem Fleiß, ihrer Tüchtigkeit und Sparsamkeit gründeten die Gressoneyer Händler im Laufe der Jahre blühende Geschäfte in Zürich, Winterthur, Weinfelden, Frauenfeld, Will, Lichtensteig, St. Gallen, Luzern und Goldau. Dasselbe geschah auch in Süddeutschland: Konstanz, Kempten, Krozingen, Wangen, Ravensburg und Augsburg. Die Tätigkeit der Gressoneyer in Süddeutschland wird im Werk von Dr. Karl Martin »Schau ins Land« aus den Jahren 1935, 1938/39 und 19553 beschrieben. Die große Anzahl von Gressoneyer Unternehmen in der Schweiz und in Süddeutschland ist ein klares Beispiel für die erstaunliche Expansionskraft, typisch für die Gressoneyer, vor allem wenn man bedenkt, dass die beiden Gressoney zusammen nie mehr als 1200–1300 Einwohner zählten. Dieser für die deutschen Völker charakteristische Drang nach fernen Ländern löschte jedoch nie das Zugehörigkeitsgefühl zur Heimat. Während der kurzen Sommermonate kehrte ein Großteil der Auswanderer nach Hause zurück, wo sie von Frau und Kindern erwartet wurden und die ganze Familie sich der Heuernte widmete.
Im Alter überfiel auch jene, die sich fest im Ausland niedergelassen hatten, die Sehnsucht nach dem Heimatland, das sie ellenè nannten. Waren sie nicht mit einer Schweizerin verheiratet, so zogen sie sich von ihren Aktivitäten zurück, übergaben ihre blühenden Unternehmen ihren Kindern oder jungen Verwandten, die ihnen ins Ausland gefolgt waren und kehrten in ihre geliebten Berge zurück, um dort den Rest ihres Lebens zu verbringen und in der Heimaterde begraben zu werden.
Ging der Sommer zu Ende, so holten diese Männer, die vor keinen Unbilden der Witterung zurückschreckten, ihre tragbaren Kästchen hervor, überprüften die Rückenpolsterung und die Tragriemen aus Leder und kontrollierten das Schloss des Geheimfaches, in dem das Geld aufbewahrt wurde. Wenn sie dann ihre chrèze schulterten, sich für fast ein Jahr von Frau und Kindern verabschiedeten um ihre Wanderung durch die Schweiz und Süddeutschland anzutreten, so ähnelten sie sehr den zahlreichen Händlern aus dem Veneto, aus der Mailänder Gegend und jener von Savoyen, die jedes Jahr auf der Suche nach dem Glück auswanderten. Alle zusammen nannte man »Italiener oder Händler neulateinischer Sprache«, oder im allgemeinen auch »Savoiardi«. Oft hörte man auch die Bezeichnung Augstaler, was auf jene die aus dem Aostatal oder Augstal und den Seitentälern kamen – eben auf die Gressoneyer – hinweist.
Im Gemeindearchiv der Stadt Schwyz befindet sich eine Bittschrift aus dem Jahre 1516, die von den einheimischen Händlern und Kaufleuten an die Gesandten der Konföderation gerichtet ist: »Zahlreich sind jene, die mit ihrer Ware von Dorf zu Dorf, von Gutshof zu Gutshof und von Haus zu Haus gehen, sie steigen sogar über Berge und überqueren Täler. Kein Wohnhaus ist sicher vor ihnen; sie dringen ein mit ihren Dienern und ihren Lehrlingen. Viele haben sogar drei bis vier. Sie scheuen nicht einmal davor zurück um Almosen zu betteln und leben so auf Kosten der armen, gutgesinnten Leute des Dorfes und geben nicht einmal einen Groschen im Gasthaus aus«.4 Die ansässigen Kaufleute schlugen vor, »diesen Fremden mit Frau und Kindern den festen Wohnsitz zu gewähren, sodass auch ihnen dieselben Pflichten und Steuern auferlegt werden konnten. Weiters verlangte man, dass die Einwanderer ein Zertifikat, ausgestellt von ihrer Heimatgemeinde vorlegten, das ihre Ehrlichkeit bestätige«.
Aber am 13. Januar 1517 wies die Diät von Zürich diese so sehr ersehnte Lösung des Problems zurück. Die Fremden importierten immer schönere Artikel, hatten ein wachsames Auge für die Nachfrage und die Bedürfnisse ihrer Kunden und wussten es geschickt anzustellen, neue Wünsche zu wecken. Aus diesen Gründen waren die Leute auf dem Land aber auch die Städter davon überzeugt, dass die Ware der fremden Händler besser und billiger war als die ihrer Landsleute. Für die Finanzbehörden waren die ausländischen Händler, von welchen sie Zoll einhoben, eine willkommene Einnahmequelle. Die Konkurrenz, die durch die fremden Händler entstand, erwies sich außerdem als gute Möglichkeit, die Preise der einheimischen Kaufleute zu drücken. Trotzdem gelang es den ansässigen Verkäufern durch ihre ständigen Klagen den ausländischen Handel einzuschränken. Obwohl die fremden Wanderhändler anfangs volle Aktionsfreiheit auf dem Lande wie in der Stadt hatten, wurde ihnen doch im Laufe der Zeit die Teilnahme an einigen Märkten in der Stadt verboten. Aber diese Fremden, die besonders flexibel waren, fanden immer einen Ausweg. Einige versuchten diese Verordnungen zu umgehen oder sie einfach zu brechen. Sie hatten mit diesem Vorgehen oft Erfolg, ansonsten wäre es nicht notwendig gewesen, immer wieder, fast 300 Jahre lang, die Aufmerksamkeit auf diese Verbote zu lenken. Andere Händler hingegen nützten einen besonders günstigen Umstand. Im 14. und 15. Jh. erhielten viele kleine und größere Ortschaften das Recht, Jahresmärkte zu veranstalten, an welchen auch die eingewanderten Händler teilnahmen, die sich nicht mehr darauf beschränkten, von Haus zu Haus und von Ortschaft zu Ortschaft zu wandern. Sobald der Warenvorrat zu Ende ging, versorgten sie sich bei einem ihrer Lager, die sie in verschiedenen Orten eingerichtet hatten, vornehmlich in Gasthäusern. Da diese Händler fast nie alleine arbeiteten, sondern mit Kindern, Brüdern und anderen Verwandten kleine Handelsgesellschaften nach dem Beispiel der Familiengemeinschaften deutschen Ursprungs gründeten, konnten sie sich, sobald sie in Schwierigkeiten gerieten, gegenseitig helfen. Sie hatten auf diese Weise auch ein breiteres Angebot zur Verfügung, und konnten die unterschiedlichsten Ansprüche ihrer Kunden erfüllen, da die vielen kleinen, tragbaren Kästchen sozusagen ein kleines Magazin enthielten, und man darin fast alles finden konnte. Der Neid der Korporationen ging so weit, dass die fremden Händler nur berechtigt waren Seidenstoffe, Leinenstoffe und Drillich zu verkaufen, aber keine Wollstoffe oder Barchen, für welche die Stoffhändler das Exklusivrecht hatten5. Die Handelsgesellschaft der Fremden spaltete sich: die einen verkauften Seidenstoffe an die Händler und die anderen die Wolle an die Stoffhändler. Nach dem Markt floss das getrennt verdiente Geld jedenfalls in eine gemeinsame Kasse. Andere ließen sich in verschiedenen Örtlichkeiten nieder, oft in kleinen Städten, wo der Einfluss des Handelsstandes noch nicht so stark war, erhielten unter diversen Schwierigkeiten das Bürgerrecht oder den Zugang zu einer Genossenschaft und übten dann einen Beruf als Handwerker oder Gasthausbetreiber aus oder eröffneten ein Geschäft und nahmen regelmäßig an den Jahresmärkten im ganzen Land teil.
Ihr praktischer Sinn brachte sie dazu, Unterstützung bei den adeligen und reichen Familien zu suchen. Heirateten sie Schweizer Frauen so achteten sie sehr auf ihre Wahl und nahmen als Trauzeugen und als Taufpaten für ihre Kinder angesehene Persönlichkeiten, Leiter der Genossenschaften, Ratsleute oder Bürgermeister. Andere heirateten eine Witwe mit einem Geschäft und begannen daher eine unabhängige Tätigkeit auszuüben. Diese verschiedenen Phasen, die den Wanderhändler zu einem gutstehenden Kaufmann mit festem Wohnsitz machten, dauerten fast 400 Jahre lang. C. Scaler (1996 verstorben) erzählte zwei kurze Episoden, die einen Kaufmann, Teilhaber an einem Stoffgeschäft in Winterthur betreffen. Jede Saison wohnte er gewöhnlich für 14 Tage in Küssnacht auf dem Rigi, im Hotel Hirschen, Eigentum der Familie Erler. Im Restaurant ließ er sich einen Tisch reservieren, auf dem er seine Modellkollektion ausstellte. Von allen Seiten kamen Bauern und Bürger herbei, um seine Kollektion zu bewundern und Stoffe zu bestellen. Auf die Frage, ob sie sofort zahlen müssten, antwortete er, dass die Schulden das nächste Mal bezahlt werden können (das heißt, bei der nächsten Saison). Die Gressoneyer gewährten ihren Kunden 6 Monate Zahlungsfrist, was auch in ihrer Buchhaltung aufschien. Es konnte auch vorkommen, dass der Gressoneyer Kaufmann nach einem Kundenbesuch mit einem Kind aus dem Ort weiterfuhr, das die Aufgabe hatte, ihn zu den Verwandten zu bringen, damit auch diese von den vorteilhaften Käufen profitieren konnten.
Die Mühen, die mit dem Wanderverkauf im ganzen Land verbunden waren, wurden mit der Zeit dank dem Bau der Eisenbahn geringer. Die Handelstätigkeit der Gressoneyer in der Schweiz erreichte ihren Höhepunkt vor 100 Jahren, als die Schweizer Postverwaltung den Versand von Paketen ermöglichte. Von dem Moment an verwendeten die »Kramer« bei ihren Kundenbesuchen nur ihre Kollektionsmodelle. Die bestellte Ware konnte dann per Post zugestellt werden. In dieser Periode entstanden zahlreiche Händlervereinigungen die den Grundstein zu großen Handelsgesellschaften legten. Klare Beispiele dafür sind die Thedy und die Bieler Menabrea in Winterthur, die Schwarz und die Bieler in Luzern, die Mehr, die Lorenz und die Welf in Lichtensteig. Die Auswanderung erlebte eine Epoche großen Glanzes. Bei einem in Küssnacht (Schweiz) abgehaltenen Kongress waren ca. 300 in der Schweiz ansässige Gressoneyer anwesend. Obwohl diese unter sich verbunden waren, wurde es immer schwieriger Lizenzen für neue Geschäfte zu erhalten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutete das Ende des Gressoneyer Handelswesens. Es wurden zahlreiche neue Kaufhäuser gegründet, die eine fast unüberwindliche Konkurrenz darstellten. Die Wende in der Geschmacksrichtung der Kunden, welche billigere Stoffe bevorzugten, bedeutete den endgültigen Untergang des Stoffhandels.
(Im Krämertal - von F. Gysling, Wir Walser 1/1968)

__________________

1 In einer Beschreibung von Joh. Stumpf - 1548 - gibt es eine Landkarte des Wallis mit dem "Kremertal". Vgl. mit Bohnenberger. Auch in der Kosmografphie von Seb. Münster, zum dritten Mal in Basel 1550 herausgegeben, ist das "Kremerthal" genannt (S. 391, im Kapitel das die bedeutendsten Orte des Walliser Kantons betrifft): Von Visp ausgehend und den Saserberg auf den Matterberg überquerend erreicht man verschiedene Gebiete auf der supalpinen Talseite, unter ihnen das "Kremerthal", im Besitze des Grafen von Zaland (der Begriff "Zalland" weist auf "Challant" hin).
2 Ludwig Neumann - S. 23 - Karl Schott S. 94
3 Diese Beschreibung des Lebens der Händler ist ausschließlich der genannten Veröffentlichung entnommen.
4 J. B. Kälin, Alte Klagen gegen fremde Hausierer und Krämer, in Mitteilungen des hist. Vereins d. Kant. Schwyz 1885 Heft 4, S. 69
5 Birkenmaier, Die Krämer in Freiburg i. Br. und Zürich, Dissertat 1913 S. 73 ff.

MIT DEM LEBENSLAUF VERBUNDENE TRADITIONEN

Die Geburt
Wurde ein Kind geboren, so organisierte die Familie sofort die Taufe, da diese innerhalb der ersten 15 Lebenstage stattfinden musste. Das Neugeborene wurde in die Kirche getragen, aber nicht von der Taufpatin, sondern von einer anderen Frau, meistens war es die Hebamme oder eine Freundin der Familie. Die Taufpatin trug die einheimische Tracht, der Taufpate einen dunklen Anzug, das Neugeborene wurde mit einem roten, mit symbolischen Dekorationen verzierten Tuch bedeckt. War der religiöse Vorgang beendet, trug der Taufpate die noch brennende Tauf  kerze nach Hause und übergab sie der Mutter, die sie verwahrte. Die Taufkerze wurde nur zu besonderen Anlässen entzündet (Hochzeit oder Tod). Am Ende der Zeremonie, an der die Eltern nicht teilnahmen, veranstaltete man ein Essen, zu dem immer der Pfarrer geladen war.

Verlobung und Hochzeit
War das Hochzeitsdatum festgesetzt, so begab sich das Paar zuerst auf die Gemeinde und dann in die Pfarre um das Eheversprechen auszutauschen; dies erfolgte immer am Samstagnachmittag. Am Vortag der Hochzeit, allerdings erst am Abend, war es dem Bräutigam erlaubt, der Braut einen kurzen Besuch abzustatten, wobei ihn ein Verwandter oder Freund begleitete, denn wäre er alleine gewesen, so hätte ihn – nach einem alten Aberglauben – der böse Geist versuchen können. Am Morgen des darauf folgenden Tages weckten Freunde und Bekannte den Bräutigam mit Böllerschüssen. Die Hochzeit wurde immer am Morgen gefeiert und eine gewisse Zeit hindurch zuerst mit dem zivilen Ritus und dann mit der religiösen Zeremonie.
Das Mittagessen nahm man im Hause der Braut ein und gegen Ende der Feier reichte die Braut jenem Mädchen, das als erstes ihrem Beispiel folgen würde, einen blumengeschmückten Brotlaib.
Am Brautzug nahmen Kinder mit Blumensträußchen teil, der Bräutigam ging am Arm der Mutter, die Braut am Arm des Vaters; bei Fehlen der Eltern waren es die Taufpatin oder der Taufpate. Bevor die Braut die Kirche verließ, näherte sie sich der Heiligen Jungfrau und bot ihr einen Blumenstrauß dar. An der Kirchenpforte warf man keinen Reis, denn dieser war zu kostbar. Ein Besuch am Friedhof war Pflicht.
Ein Brauch, der nicht mehr besteht: am darauf folgenden Sonntag begleitete die Schwiegermutter ihre Schwiegertochter in die Kirche zur Familienbank und auf jenen Platz, den diese nunmehr während der Messe einnehmen würde.

Der Tod
Starb ein Erwachsener, so wurde dieser mit seinem besten Gewand bekleidet und auf sein Bett gelegt, das Zimmer mit Blumen und Heiligenbildern geschmückt.
Sobald sich die Nachricht verbreitet hatte, kamen damals wie auch heute noch Verwandte, Freunde und Bekannte um neben dem Toten zu beten und den Angehörigen ihr Beileid auszusprechen; beim hinein  und hinausgehen aus dem Zimmer beten sie: »Gelobt sei Jesus Christus« und wer im Zimmer verweilte antwortet »En d’ewigkeit«. Zur Erinnerung an den Toten wurde Kaffee angeboten oder ein Glas Wein, Likör und ein paar Kekse, denn die Menschen kamen oft von weit entlegenen Siedlungen her, auf unwegsamen und oft auch verschneiten Pfaden um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Abends betete man den Rosenkranz in deutscher Sprache.
Der Tote blieb in der Nacht nie alleine, die Totenwache wurde abwechselnd von Freunden und Bekannten abgehalten.
Das Begräbnis erfolgte meistens zwei bis drei Tage nach dem Ableben und der Verstorbene wurde erst um Schlag Mitternacht vor dem Begräbnistag in die Bahre gelegt: man sagt, zu dieser Stunde kommt die Prozession der Toten vorbei um die Seele in das ewige Reich zu begleiten.
Man hielt die Totenmesse immer am Morgen ab. Der Sarg wurde vor der Wohnung aufgestellt, mit geweihtem Wasser im Kreuzzeichen besprengt, worauf sich der Leichenzug in Richtung Kirche bewegte. Gleichaltrige und Freunde trugen den Sarg auf ihren Schultern. Selten nahm die Witwe oder der Witwer am Begräbnis teil. Erst am darauffolgen den Sonntag besuchte die gesamte Familie die Messe. Jeden Sonntag, ein ganzes Jahr hindurch, betete der Pfarrer vor der Familienbank des Verstorbenen das »De Profundis«. Gehörte der Verstorbene einer Bauernfamilie an, so schenkten die Familienangehörigen jeden Montag einem hilfsbedürftigen Nachbarn einen Liter Milch.
Starb ein Kind, wurden sofort die Taufpatin und der Taufpate verständigt. Beim Begräbnis bedeckten sich die Frauen, die das Englein begleiteten, den Kopf mit einem weißen Tuch; viele Menschen nahmen mit Schmerz aber andachtsvoll an der Funktion teil, und man sagte, »um ein Englein ins Paradies zu begleiten, zahlt es sich aus, ein Paar Schuhe zu verbrauchen«.

MIT DEM JAHRESABLAUF VERBUNDENE TRADITIONEN

Das Neue Jahr
Um die Ankunft des Neuen Jahres zu feiern, bäckt man in jedem Haus die chiechenè, die traditionellen Mehlspeisen, die mit Mehl, Zucker, Eier, Zitronenschale, Sahne und Schnaps zubereitet und allen jenen angeboten werden, die kommen um ein Glückliches Neues Jahr zu wünschen. In der Nacht des 31. Dezembers singen Jung und Alt von Haus zu Haus das traditionelle »Neujahrslied«, die Jungen erhalten einen Kuss von den Mädchen und die Erwachse  nen verweilen zu einem kurzen Imbiss. Am Morgen des 1. Januars gehen die Kinder von Haus zu Haus und wünschen ein Gutes Neues Jahr wobei sie den Satz wiederholen »Es guez nus joar wèntschtò an Gott gäbtòs« (Wir wünschen ein gutes Neues Jahr und dass der Herr es Euch gewähre). Die Kinder erhalten ein Geldgeschenk.

Das Fest der Heiligen Dreikönige
Am Vortag des Heiligen Dreikönigsfestes gab es einen Brauch, der heute vergessen ist: die Mädchen schlossen sich zusammen und versuchten durch einfache Symbole, die sie auf Papier gezeichnet hatten, ihre Zukunft vorauszusehen. Zwischen einer Vorhersage und der anderen erwarteten sie die jungen Männer, die um Mitternacht erschienen um eine Hymne in deutscher Sprache zu singen, das Drichènègslied.

Der Fasching und Brauchtum im Jahreslauf
Während der Faschingszeit geht es lustig zu, man erdenkt die verschiedensten Scherze um die Monotonie des langen Winters zu unterbrechen.
Am Faschingsdonnerstag wird in vielen Häusern ein großer Topf mit Fleisch, Salami und Speck auf das Feuer gestellt und gegen Mittag organisieren die Spaßvögel »den Raub des Topfes«; einige von ihnen lenken die Hausfrau mit einer List ab und die anderen bringen schnell den Topf mit seinem gesamten Inhalt weg. Gelingt der Scherz, so verspeisen die Spaßvögel ein gutes Mahl. Der Topf wird natürlich zurückgebracht. Am Schwarzen Freitag verschmiert man die Gesichter der Leute denen man begegnet mit Ruß oder Holzkohle.
Am Nassen Samstag wäscht man die Leute, die man am Vortag schwarz gefärbt hatte mit Wasser oder Schnee.
Am Sonntag wird ein Maskenball veranstaltet.
Nichts besonderes geschieht während der Fastenzeit und zu Ostern; das Fasten wird genau eingehalten, ebenso die religiösen Riten.
Nach Ostern geht man in die Kirche das geweihte Wasser zu holen, das man immer bereit hält, sei es um eine Braut zu segnen, oder einen Verstorbenen, oder für eine Taufe in extremis oder man erwartet den Besuch des Pfarrers für die Segnung des Hauses.
Mai: Monat der Heiligen Jungfrau, ein Monat, in dem sich vor allem die Frauen am Abend in der Kapelle der Siedlung oder in der Kirche zum Rosenkranzgebet einfinden. Auf dem Kalender sind im Monat Mai einige Heilige verzeichnet, die sich auf die Mete orologie beziehen: der Heilige Philipp und der Heilige Jakob sagen Eis voraus; der Heilige Pankratius, der Heilige Servazius, der Heilige Bonifazius und die Heilige Sofia, die sogenannten Eisheiligen, lassen kalte Tage erwarten.
Der Tag der Heiligen Dreifaltigkeit ist in Gressoney La Trinitè das Fest des Schutzpatrons. Bei der anschließenden Prozession nehmen alle Frauen in ihrer Tracht teil. Am Tag des Heiligen Bernhard (15. Juni) erfolgt der Auftrieb des Viehs vom Stall auf die Almen.
In Gressoney Saint Jean feiert man den Schutzpatron am Tag des Heiligen Johannes (24. Juni). Am Abend vorher werden in den verschiedenen Siedlungen auf bestimmten An höhen Feuer entfacht, am nächsten Tag wird nach der Messe die Prozession abgehalten, an der alle Frauen in ihren Trachten teilnehmen. Die einjährigen Kinder werden zum Altar gebracht und erhalten die Segnung. Zum Offertorium bringt man ein Lämmchen in die Kirche, manchmal auch zwei oder drei, als symbolische Geste. Das Lämmchen wird versteigert und der Ertrag dem Pfarrer für die Bedürfnisse der Pfarre übergeben. Am Tag der Heiligen Peter und Paul (29. Juni) steigen die Bauern, die ihre Kühe einem Hirten für die Sommersaison anvertraut haben, auf die Almen hinauf. Hier wird die Milch jeder Kuh, die zweimal täglich gemolken wird, abgewogen. Je nach Gewicht ist es üblich, dem Hirten für die Erhaltung und Pflege der Kuh drei Liter Milch anzuerkennen, der Rest wird gemäß den getroffenen Vereinbarungen ausbezahlt. Der erste Sonntag im Juli war der Ankunft der Schnitter gewidmet, die meistens aus Chailland, Montjovet und Verrès kamen. Sie fuhren im Morgengrauen von ihren Dörfern und überquerten den Hügel des Ranzola um den oberen Platz von Gressoney Saint Jean zu erreichen. Dort stellten sie ihre Ausrüstung in Nähe des Hauses Thumiger ab und warteten auf ihre Arbeitgeber, die sie auf Taglohn beschäftigten.
Der zweite Juli, Tag der Heimsuchung Mariä, ist für das Wetter wichtig; ist es schön, so bleibt es auch für 40 Tage so, ist es schlecht, dauert es ebenso lange. Alle hoffen daher, dass die Sonne scheint, denn so ist die Heuernte leichter und ergiebiger; ebenso erhofft man sich eine gute Fremdenverkehrssaison.
Der 15. August, Mariä Himmelfahrt, ist ein prächtiges Fest. Nach der Messe wird die Prozession abgehalten; die Statue der Heiligen Jungfrau wird von den Achtzehnjährigen getragen, gefolgt von den Frauen in ihrer Tracht. Das Ende des Monats August leitet den Herbst ein und ein hiesiges Sprichwort sagt: »Ougetschte foad herbscht èm groad, ougeschte livrò herbscht en der Lysò« (Anfang August ist der Herbst noch am Gipfel, aber am Ende August erwartet ihn die Lys).

Greschòney-La-Trinité: Prozession zum Kirchweihfest

Greschòney-La-Trinité: Prozession zum Kirchweihfest

Am Sankt Michaelstag (29. September) werden die Kühe von den Almen abgetrieben. Ende Oktober werden sie dann von den Weiden in den Stall getrieben, wobei man einem wohlgesinnten Sternzeichen folgt.
Die Gressoneyer verehren ihre Verstorbenen seit jeher sehr intensiv und so kommen am 1. November besonders viele Menschen zur Messe in die Kirche. Gewöhnlich wurden die Glocken die ganze Nacht hindurch geläutet; der wehmütige Ton der Glocken sollte bedeuten: »Ihr seid nicht vergessen«. In früheren Zeiten legte jede Familie ein Essen auf den Tisch, meistens Kastanien, damit der Verstorbene diese nachts verspeisen konnte. Mit Beginn des Winters veranstaltete man die sogenannten »Nachtwachen«. Familiengruppen aus derselben Siedlung trafen sich in der milden Wärme des Stalles der mit einer Petroleumlampe erleuchtet wurde, man arbeitete und plauderte. Es gab viele Dinge für die Feiertage und für die Sommertätigkeit vorzubereiten, die Wolle wurde gesponnen, man nähte, strickte, besserte die Kleidung aus und fertigte Pantoffeln an.
Fast jede Familie schlachtete ein Schwein: das Fleisch, der Speck und die Würste, die man räucherte wurden dann im Laufe des Jahres verbraucht. Bei der Schlachtung achtete man auf die Mondphasen und auf das Sternzeichen. Man schlachtete bei abnehmendem Mond im Zeichen der Waage, der Jungfrau oder der Zwillinge.
Zum gleichen Zeitraum wurde in jeder Siedlung das Brot für das ganze Jahr gebacken, auch bei dieser Gelegenheit war die Mondphase wichtig, der Mond musste im Zunehmen sein. Bevor man das Brot anschnitt, war es Brauch, mit dem Messer ein Kreuzzeichen auf den Laib zu machen.
Der St. Nikolaustag (6. Dezember) ist ein großer Festtag für die Kinder, denn dieser Heilige bringt ihnen Geschenke. Am Vorabend, nach der Schule, gehen die Kinder von Haus zu Haus und hinterlassen einen Zettel mit ihrem Namen. Die Zettel werden in einer Schüssel gesammelt, in die der Heilige Nikolaus nachts Nüsse, Äpfel und Süßigkeiten legt. Ein Zettelchen mit dem Namen wird auch im Hause hinterlegt und manches mal findet das Kind, falls es nicht brav war, außer Obst und Süßigkeiten auch eine Rute. Da der Heilige Nikolaus von einem Esel begleitet wird, schüttete man oft auch Milch in die Schüssel.
Nichts außergewöhnliches wurde für Weihnachten vorbereitet, außer der Krippendarstellung mit Dialogen im einheimischen Dialekt.

DIE SPRACHE

Die Walser Mundart, die grundsätzlich ihre antiken Wurzeln bewahren konnte, ist das besondere Merkmal der Walser. In Gressoney ist das Titsch dank der kontinuierlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen der Krämer, die zwar in die Schweiz und nach Deutschland auswanderten, erhalten geblieben. Besonders wichtig für den Erhalt der Mundart war auch, dass sie die Kontakte mit ihrem Heimatland aufrecht erhielten.
In den Schulen von Gressoney unterrichtete man lesen und schreiben in deutscher Sprache; die italienische Sprache wurde erst nach 1870 eingeführt, als der öffentliche Unterricht durch Verordnungen der italienischen Regierung geregelt wurde.
Aus der Volkszählung von 1901 und von 1921 geht hervor, dass mehr als 90% der Einwohner von Gressoney gewohnheitsmäßig titsch sprachen. 1979 ergab sich, dass nur mehr 40 % der Bevölkerung diesen Dialekt sprachen. Heute sind es ca. 35 %, wobei in verschiedenen Familien noch alle Mitglieder titsch sprechen.
Die Gründe, warum das Titsch immer weniger gesprochen wird, sind folgende:
– Radio und Fernsehprogramme ausschließlich in italienischer Sprache
– die Touristen, mit welchen man italienisch sprechen muss (wenige deutschsprachige Touristen)
– Ehen mit Partnern, die nicht aus der Gemeinschaft stammen.

DIE SCHULE

Die Walser Gemeinden im Aostatal haben sich in der Vergangenheit auch auf dem Gebiet des öffentlichen Unterrichtes ausgezeichnet: es entstehen
1682 in Gressoney Saint Jean die erste Schule dank des Hochwürden Bieler
1691 in Gressoney La Trinitè eine Schule in dem Ort Selbsteg dank des Hochwürden Netscher
1732 in Gressoney La Trinitè die Schule im Hauptort dank des Hochwürden Vuillermin
1748 in Gressoney Saint Jean eine Schule in der Siedlung Trinò, die vom Rat der Familienoberhäupter der beteiligten Fraktionen verwaltet wird .
1806 wird in Gressoney Saint Jean, Obre Caschtal, die Handelsschule Rial auf testamentarischen Wunsch von Caterina Rial gegründet, die ihren Besitz für die Einrichtung einer Rektoratskirche stiftete, damit der leitende Priester dort Lehrkurse abhalte. Ihre Absicht war es, die jungen Menschen in die Handelsaktivitäten einzuführen, da diese Tätigkeiten ihrer Ansicht nach die sicherste Einkommensquelle für die Bevölkerung ihres Dorfes darstellte.
In diesen Schulen wurde nur die deutsche Sprache gelehrt.
Nach der Einigung Italiens wurden die Schulen verstaatlicht und von diplomierten Lehrkräften geleitet, eingesetzt vom Schulamt. Italienischunterricht wurde gemeinsam mit dem Deutschunterricht abgehalten, dieser wurde jedoch vom Faschismus abgeschafft.
Ab 1946 wurde mit der Gründung der Autonomen Region des Aostatals in den Volksschulen die französische Sprache eingeführt und Deutsch als Wahlsprache.
1972 wurden die Schulen in den einzelnen Orten aufgelassen und die Schüler in den Schulen der Hauptorte untergebracht.
1946 wurde in Gressoney Saint Jean auf Initiative der Gemeinde eine Private Handelsschule gegründet, später in eine Mittelschule umgewandelt, die 1969 vom Unterrichtsministerium als öffentliche Mittelschule anerkannt wurde, um dann 1984 eine Regionale Mittelschule zu werden. In dieser Schule war der Deutschunterricht ein Wahlfach.
Heute ist der Deutschunterricht durch das Verfassungsgesetz vom 12.06.1993 garantiert.

DIE KIRCHE

Die Kirche von Gressoney Saint Jean wurde 1515 im Hauptort errichtet und 1660 zur Pfarre erhoben. Die Kirche von Gressoney La Trinitè, 1671 auf den Ruinen einer antiken Kapelle erbaut, wurde 1686 Pfarrkirche.
Von 1660 bis 1883 stammten alle Pfarrer von Gressoney aus der einheimischen Bevölkerung und ihre offizielle Sprache bei der Beichte, bei den Gebeten und beim Katechismusunterricht war Deutsch. Früher gab es oft Klagen seitens der Einwohner von Gres  soney, die einen Pfarrer brauchten, der ihre Sprache verstand, vor allem bei der Beichte; in den Wintermonaten konnte es auch vorkommen, dass man die Verstorbenen ohne Sterbesakrament begraben musste, da der Pfarrer aus Issime wegen der hohen Schneelage nicht bis hierher kommen konnte.

Greschòney: Weiden

Greschòney: Weiden

Beim Bischofssitz von Aosta gibt es Urkunden aus den Jahre 1412 und 1567 über diesbezügliche Bittgesuche der Gläubigen aus Gressoney.

RECHTSVORSCHRIFTEN UND IHRE DURCHFÜHRUNG

Der Schutz der Merkmale und Traditionen der Sprache und Kultur der Walser Bevölkerung im Aostatal ist mit dem im Amtsblatt veröffentlichten Verfassungsgesetz der Italienischen Republik vom 21.06.1993 geregelt und vermerkt unter Artikel 2:
»Nach Artikel 40 des Sonderstatutes für das Aostatal,  mit Verfassungsgesetz vom 26.02.1948 Nr. 4 genehmigt, wird folgender Artikel eingefügt:
»Artikel 40 bis – Der deutschsprachigen Bevölkerung der Gemeinden des Valle del Lys, wird laut Regionalgesetz das Recht zugesprochen, ihre sprachlichen und kulturellen Merkmale und Traditionen zu schützen. Der Bevölkerung wie unter Absatz 1 wird der Unterricht der deutschen Sprache mittels entsprechender Anpassung an die lokalen Bedürfnisse zugesichert.«
In Anwendung dieses Gesetzes hat der Regionalrat des Aostatals mit eigenem Gesetz vom 19.08.1998 Nr. 47 die Ziele und die Grundsatzbedingungen für dessen Anwendung festgelegt.
Mit Dekret Nr. 50 vom 05.02.1999 des Präsidenten des Regionalausschusses wurde der ständige Rat zum Schutz der Walser Sprache und Kultur mit Bezug auf das vorhergehende Regionalgesetz eingesetzt.

KULTURELLE EINRICHTUNGEN

Das Walser Studien  und Kulturzentrum des Aostatals mit Sitz in Gressoney Saint Jean wurde mit öffentlichem Akt des Notars Favre am 26.11.1982 gegründet.
Der Zweck dieses Zentrums ist:
a) Begünstigung und Förderung der öffentlichen und privaten Zusammenarbeit zum Zwecke des Studiums, der Forschung, der Beibehaltung und der Verbreitung der Walser Sprache;
b) Forschung und Dokumentation über das Leben, die Kultur und das Brauchtum der Walser;
c) Gründung eines Museums, eines Archivs und einer Bibliothek;
d) Bereitstellung eines Wörterbuches der Walser Sprache (titsch und töitschu),
e) Anregung und Förderung zur Veröffentlichung und Verbreitung von Werken in Bezug auf die Tätigkeiten, das Leben und die Forschung über die Walser;
f) Organisation und Förderung von Studien und Treffen.
Die Walser Bibliothek wurde durch das Regionalgesetz Nr. 28 vom 17.06.1992 ermöglicht und 1994 in Gresssoney Saint Jean eröffnet.

Die Bibliothek Walser sammelt und bewahrt Bücher, Zeitschriften und andere Informationsquellen auf, die sich auf die Kultur der Walser Bevölkerung beziehen, wertet die Bestände des Walser Kulturzentrums aus und ermöglicht die Einsicht in die Sammlungen des Archivs.

VERÖFFENTLICHUNGEN VON INTERESSE FÜR DAS WALSER-GEBIET

In Anlage eine Bibliographie einiger der veröffentlichen Werke verschiedener Autoren wie »Gressoney und Issime – die Walser im Aostatal«, herausgegeben vom Walser Studien und Kulturzentrum, gedruckt 1986 von den Industrie Grafiche Musumeci di Quart (AO), sowie eine Liste der Schriften des Prof. Peter Zürrer.
Einige Veröffentlichungen von 1986 bis heute:
Verschiedene Autoren: »Gressoney e Issime i Walser in Valle d’Aosta«, Musumeci, Quart, 1986;
Ludwig Von Welden, »Il Monte Rosa«, Fondazione Monti, Anzola d’Ossola, 1987;
Julius Studer, »Le colonie tedesco vallesane e walser delle Alpi«, Fondazione Monti, Anzola d’Ossola, 1988;
Horace Bénédict De Saussure, »Viaggi intorno al Monte Rosa«, Fondazione Monti, Anzola d’Ossola, 1989;
Enrico Rizzi, »Fonti per la storia degli insediamenti walser«, Fondazione Monti, Anzola d’Ossola, 1991;
Franca Faranda, »Le minoranze linguistiche italiane«, Luisi Editore, Rimini, 1990;
Tersilla Gatto Chanu, »Leggende e racconti della Valle d’Aosta«, Newton Compton Editori, Roma, 1991;
Verschiedene Autoren und Photographien von Carlo Meazza, »Monte Rosa«, Jaca Book, Milano, 1992;
Lorenzo Ferretti, »Nos Ancetres«, Musumeci, Quart, 1992;
Elisa Farinetti e Pierpaolo Viazzo, »Giovanni Gnifetti e la conquista della Signalkuppe«, Tipografia Crespi, Vittuone, 1992;
Erika Hössli e Kurt Wanner, »Uber alli Grenzä Walser Dialekttexte«, Verlag Bundner, Monatsblatt, 1992;
Elena Ronco »I Walser di Pietre Gemelle«, Tipografia Crespi, Vittuone, 1993;
Paolo Sibilla, »Scambi e trasferimenti tra commercio e cultura nell’arco alpino occidentale«, Walser Kulturzentrum, Gressoney Saint Jean, 1993.
Reinhold Messner, Enrico Rizzi, Luigi Zanzi, »Il Monte Rosa la montagna dei walser«, Fondazione Monti, Anzola d’Ossola, 1994;
Lino e Laura Guindani, »Gressoney Walserdorf«, Edizioni Guindani, Gressoney Saint Jean, 1998;
Davide Camisasca, »Vallée d’Aoste entre le ciel et la terre«, Lerch Editore, Gressoney Saint-Jean, 1999;
Teresio Valsesia e Franco Restelli, »Walser il fascino il mistero«, Macchione Editore, Azzate, 1999;
Verschiedene Autoren, »Alagna Valsesia una comunità walser, Valsesia Editrice, Borgo sesia, riedizione 1999;
Marisa Ciocca, »Sapore di passato, sapore di antiche e autentiche villeggiature«, Edizioni Cervino, Chatillon, 2001;
Giovanni Thumiger, »Die Krämer«, Arti Grafiche Duc, Saint Christophe, 2002;
Enrico Rizzi, Luigi Zanzi, »I Walser nella storia delle Alpi«, Jaca Book, Milano, 2002;
Giuseppe Mario Scalia – Zentralbüro des Innenministeriums  für die Probleme der Grenzgebiete und der Minderheiten:
1995 – Erster Bericht über die kulturellen Aspekte der Minderheiten;
1997 – Aspekte der Traditionen und des Brauchtums der Walser;
2001 – Minderheiten: ein europäischer Reichtum